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Städtesystemtheorie

1. Begriff: Forschungsansatz in der Wirtschaftsgeographie und Raumwirtschaftstheorie, der die Städte bzw. Siedlungen eines Gebietes (zumeist einer Nation) als räumlich dynamisches System im Sinne eines formalen Systems der allgemeinen Systemtheorie betrachtet. Eingeführt wurde dieser formale Ansatz in die Stadtgeographie um 1970, angeregt durch die dynamischen Modellbildungen zur Erforschung räumlicher Prozesse sowie die damaligen Überlegungen der Raumordnungspolitik, durch nationale Siedlungssystempolitik die sozioökonomische Entwicklung zu steuern. - 2. Theorie: Städtesysteme werden gesehen als strukturierte Organisationszusammenhänge, die sich aus einer Menge von Siedlungseinheiten (Elementen) und einer Menge von Beziehungen zwischen den Systemelementen konstituieren. Städtesysteme haben eigene Verhaltensfunktionen zur internen Steuerung und zur Reaktion auf externe Einflüsse. Sie weisen prozessuale Veränderungen auf (Dynamik) mit entsprechenden Veränderungen der Systemelemente und -beziehungen. Städte- bzw. Siedlungssysteme werden als offene Systeme gesehen, die sich mit den evolutionären Prozessen des entsprechenden nationalen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems wandeln, wobei der Systemwandel sich jedoch mit unterschiedlichen zeitlichen Lags und räumlichen Konfigurationen vollziehen kann. Ziel der systemtheoretischen Betrachtung des interurbanen Raumgefüges ist es, stadtsystemische Prozesse in ihrer Korrespondenz zur Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung, d. h. als Resultat und als Bedingung sozioökonomischer Prozesse zu analysieren und darüber eine nationale Siedlungssystempolitik als Ziel- und Instrumentvariable einer Raumordnungspolitik zu formulieren (Bartels 1979). Die Schwierigkeiten der Städtesystemtheorie bestehen in der sachlichen und empirischen Füllung der formal definierten Strukturen, Funktionen und Prozesse. Wie sind die Elemente zu definieren (z. B. statistische Stadtdefinition, Nodalregion), welches sind ihre relevanten Eigenschaften (z. B. Einwohnerzahl, wirtschaftliche Merkmale)? Die Beziehungen zwischen den Elementen, die in Interrelationen bzgl. Lage, Größe oder Struktur und in Interaktionen (Wege, Ströme) unterschieden werden, sind äußerst vielfältig, denn die Systemtheorie schließt prinzipiell alle Beziehungen zwischen den Elementen ein, also Migrations-, Waren-, Kapital-, Informationsströme, Macht- und Organisationsbeziehungen, Ausbreitungsbewegungen von Innovationen etc. Insofern stellt sich das Problem einer brauchbaren Annäherung an die vollständige Matrix der real vorhandenen, interdependenten Beziehungen. In gleicher Weise ist die Identifizierung der systemischen Verhaltensfunktionen komplex, d. h. die Bestimmung von Steuerungs-, Regelungs- und Rückkoppelungsmechanismen sowie von Gleichgewichts- und Ungleichgewichtszuständen. Für Teilbereiche des Städtesystems lassen sich derartige Verhaltensfunktionen erkennen, so können z. B. für die Hierarchie des zentralörtlichen Systems die Agglomerationsvorteile ein stabilisierender Rückkoppelungsfaktor sein. Für andere Teilbereiche und für das Gesamtsystem ist die Bestimmung noch nicht gelungen. Vielfach behandelt die Städtesystemtheorie nur Subsysteme wie z. B. das zentralörtliche System, das System von funktionalen Pendlerregionen, von Ballungsräumen etc. Schließlich steht man vor dem Problem der Ermittlung, über welche Elemente und Beziehungen sich der Systemwandel vollzieht, welche Rolle dabei externe Einflüsse der System"umgebung" (z. B. gesellschaftlicher Wandel) und interne Momente der Systemdynamik (z. B. die Bedeutung "vererbter" Siedlungsstrukturen für die Inkonsistenz der Rang-Größe-Verteilung) spielen. Erste Versuche in dieser Hinsicht sind Modelle regelhafter Abfolgen in der Entwicklung von Städtesystemen, wie z. B. die Wachstumspfade des räumlichen Siedlungssystems von Simmons (1974). - Die Analyse und vergleichende Typologie von Städtesystemen erfordert empirisch ermittelbare Kennwerte und komplexe Indikatoren. Neben Mittelwerten, Streuungsmaßen, Klassifikationen und graphentheoretischen Verknüpfungsmaßen kommen dabei besonders Entropie- und andere Verteilungsmaße zum Einsatz. Wichtigste Ansätze sind: (1) Der deskriptive Rang-Größe-Ansatz (Rang-Größe-Regel) versucht über die Abweichungen der Regelverteilungen der Siedlungsgrößen den Entwicklungsstand des Systems zu kennzeichnen und optimale Stadtgrößen zu definieren. (2) Die Zentrale-Orte-Theorie leitet weitgehend statische Siedlungssysteme aus den punkt-arealen Versorgungsaufgaben ab. (3) Die Theorie der Entwicklungszentren (Wachstumspole) untersucht den Zusammenhang von Städtesystemen und der Ausbreitung von Wachstumsimpulsen. (4) Die Frage, inwieweit Wachstumsdeterminanten und die Adaption und Diffusion von Neuerungen (zunächst) vorwiegend auf Subsysteme konzentriert sind, ist entwicklungspolitisch von besonderem Interesse. Der vierte Ansatz betrachtet die unternehmensinternen Organisationsstrukturen als Hauptmoment wirtschaftlicher Dynamik von Städtesystemen (z. B. die Rolle der Kommunikationsströme von Entscheidungs- und Kontrollfunktionen in Mehrbetriebsunternehmen) bzw. die herrschaftsbezogenen Steuerungsmechanismen als Faktor der Städtesystementwicklung. - 3. Anwendung: Praktische Bedeutung hat die Städtesystemtheorie in der Raumordnungspolitik (regionale Disparitäten) gewonnen, die mittels einer nationalen Städtesystempolitik gesellschaftspolitische Ziele zu verwirklichen sucht. Die häufigsten Ansätze sind Änderungen der Primatverteilung durch die Entwicklung von Entlastungszentren oder die Gründung von Großstädten im Landesinneren, die Planung eines Netzes nationaler Entwicklungszentren (besonders in Entwicklungsländern) und die Strategien zur Dekonzentration und zum Ausgleich von Disparitäten (u. a. in der Bundesrep. D. durch den Ausbau der unteren Städtegrößen).

 

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