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Soziologie der Bevölkerungsentwicklung

Unter den Bezugswissenschaften, die die Makrotheorie (Bevölkerungswissenschaft IV.) der Bevölkerungsentwicklung am weitesten vorwärtsbrachten, ragt die Soziologie hervor. 1. Theoriegeschichte: a) Malthusianismus: Die Bevölkerungssoziologie beginnt mit der zweiten Auflage von Malthus' Bevölkerungsgesetz (Bevölkerungswissenschaft IV.) aus dem Jahre 1803. Danach könnten die Menschen der Katastrophenschere aus Überbevölkerung infolge von ungezügeltem Geschlechtstrieb und Nahrungsknappheit nur entgehen, wenn sie ihr Verhalten kontrollieren: mit Spätheirat, Junggesellentum, sexueller Enthaltsamkeit, etc. - alles Vorschläge, die - so der große Volkswirtschaftslehrer von Beckerath - "leider nicht jedermanns Sache sind". Dennoch, der Mensch ist nicht völlig seinen Trieben ausgeliefert, sondern kann sie steuern und in strengen Verhaltensnormen zügeln. Als die Segnungen des Industriesystems schrittweise in die Mittelschicht und Arbeiterklasse vordrangen und neue Wünsche nach Gütern und Lebensstilen auch das demographische Verhalten änderten, hatte sich soziologisches Denken gegenüber naturalistischen Deutungen (Geschlechtstrieb, Hungertod) endgültig durchgesetzt. Denn die Verringerung der Kinderzahlen, zuerst in den bürgerlichen Familien, mußte die Folge neuer Lebensumstände und Willensentscheidungen sein: nur mit wenigen Kindern waren die Ausbildungskosten zu tragen, konnte bürgerliches Besitzstreben Platz greifen und waren die neuen Freizeit-Segnungen (Sport und Wochenende) zu genießen. - b) Dieses neue Paradigma, das sinkende Kinderzahlen bei steigendem Wohlstand erklärt, wurde bald Wohlstandstheorie genannt. (L. Brentano, W. Sombart); neben der wirtschaftlichen Verbesserung der Haushalte wurde auch das neue Lebensgefühl nach 1918 für die Bindungs- und Nachwuchsentscheidungen der Paare berücksichtigt: eine allgemeine Rationalisierung des Lebensstils (J. Wolf), der den geplanten Einsatz empfängnisverhütender Mittel bedinge. - c) Bevölkerungssoziologie Mackenroths: In den 40er und 50er Jahren beginnt eine Neubearbeitung der Bevölkerungstheorie (Bevölkerungswissenschaft IV.), als deren Ergebnis eine historisch-soziologische Theorie der Bevölkerungsbewegung erscheint. Ihre Beiträger waren G. Ipsen, H. Linde und G. Mackenroth. Demnach sind die Geburten und Sterbevorgänge zwar Teil der biologischen Menschennatur, aber "sozial überformt" (Mackenroth), d. h. die Entscheidungen der Paare erfolgen aus geschichtlichen und kulturellen Traditionen sowie sozialen Situationen. Der Geburtenvorgang passiert drei Schleusen: Erstens das biologische Können, zweitens das psychologische Wollen und drittens das soziale Dürfen. Anstatt von "natürlicher" ist von biosozialer Bevölkerungsbewegung (K. M. Bolte) zu sprechen. So wird die geringe Kinderzahl zur sozialen Norm inmitten eines industriellen Lebensrhythmus. Da die Bevölkerungsvorgänge alle wichtigen Lebensstationen der Menschen begleiten und formen, werden - bei geschultem Blick - die demographischen Kennziffern Rückschlüsse auf eine Gesellschaftsordnung zulassen. So spiegelt das generative Verhalten die Einstellung zum Nachwuchs wider; die Zahl der Kinder und der Geburtenabstand erlauben Rückschlüsse auf die Lebensform der Familien, ihrer Mitglieder und den Erziehungsaufwand, den sie zu leisten gewillt sind. Nach Mackenroth untersuchen wir "das geschichtliche Zusammenspiel generativer Verhaltensweisen einer Menschengruppe" und konstruieren daraus die generative Struktur. Sie umfaßt erstens die Heiratsverhältnisse: das jeweils erlaubte oder auch gewünschte Heiratsalter und die Heiratshäufigkeit, die sich auch durch einen Junggesellenanteil am Altersjahrgang ausdrücken läßt, sodann die Form der Ehelösungen und Scheidungen; zweitens die Fertilität (Fruchtbarkeit), die sich zusammensetzt aus ehelichen und unehelichen Geborenen und den Zeitabstand ihrer Geburt und drittens die Sterblichkeit nach Altersgruppe und Geschlecht. Die generative Struktur wurzelt in der übrigen Sozialstruktur und steht mit dem Gesellschaftsganzen in einem Abstimmungsverhältnis. Sombart beschreibt in seinem "Modernen Kapitalismus", wie sich die Arbeiterschaft, der bäuerlichen Überschußbevölkerung entstammend, dem Industriesystem anpaßt. Nach einer Phase schwerster Fabrikarbeit, Wohnen in Zinskasernen in drei Generationen, Erwerbsarbeit der Frau, entsteht in der Arbeiterschaft der moderne Wohlstandsbürger, der dann das Bild der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" (H. Schelsky) nach dem Zweiten Weltkrieg prägt.
2. Demographischer Übergang: a) Begriff: Die europäische Bevölkerung erlebte diesen Wandlungsvorgang vom 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts und verdoppelte sich aufgrund von Geborenenüberschüssen, die sich aus dem hohen Geburtenniveau und der bereits gesunkenen Sterblichkeit ableiten (1850: 210 Mio., 1950: 393 Mio. Menschen). Es handelt sich hier um die demographische Seite der Modernisierung, die sich - idealtypisch - nachzeichnen läßt: Die Beschreibung und Analyse dieses grundlegenden Wandels war für Jahrzehnte das Hauptarbeitsgebiet der Bevölkerungssoziologie. Für Deutschland sah Mackenroth den historisch-soziologischen Wandel von vorindustrieller zu industrieller generativer Struktur. Für Frankreich prägte schon 1934 A. Landry den Ausdruck demographische Revolution, der sich analog zu der industriellen vollzieht. Der Weg von der vorindustriellen generativen Struktur zur industriellen wurde in den USA von F. Notestein in einer Dreiersequenz bearbeitet und demographischer Übergang genannt. Der demographische Übergang wird als evolutionistische Konzeption gefaßt, die die Sterblichkeitssenkung und den - mit Verzögerung - folgenden Geburtenrückgang in ursächlich verbundenen Verlaufskurven darstellt. F. Notestein nannte den vorindustriellen Zustand wegen hoher Sterblichkeit und des in ihm noch schlummernden Wachstums "high potential growth". Sodann führt Sterblichkeitssenkung zu einer Spreizung von Geburten und Sterbewerten und in eine ungewöhnliche Wachstumsphase. Notestein hat sie "transitional growth" genannt und der Theorie damit den Namen gegeben. Das sich anschließende Stadium "incipient decline" bedeutet Geburtenrückgang, Sinken der Wachstumsrate und ein neuerliches, wiedergefundenes Bevölkerungsgleichgewicht. Die biosoziale Bewegung hat den Weg von hohem Ereignisniveau mit viel Geburten und fast ebensoviel Todesfällen zum niedrigen Niveau mit wenigen Geburten und besiegter vorzeitiger Sterblichkeit gefunden. - b) Beurteilung: Die Theorie des demographischen Übergangs verallgemeinert vorschnell die Relevanz von Elementen der westeuropäischen Modernisierung, wie Steigerung der Einkommen, des Bruttosozialprodukts, des Bildungs- und Verstädterungsgrads etc. und wird mit den vielen geschichtlichen Ausnahmen kaum fertig. So war der Theoriestatus des demographischen Übergangs ständig umstritten, weil er als induktives evolutionäres Schema zu konkreten Bevölkerungen keine hinreichend erklärenden und prognosefähigen Aussagen machen konnte. Welche die entscheidenden und auslösenden Faktoren des demographischen Übergangs sind, hängt von geschichtlichen und regionalen Besonderheiten ab. Sie müssen, wie die Bedingungen der Vollendung des demographischen Übergangs, empirisch erforscht werden. Das Übergangsschema bildet hierfür nur einen schwachen Anhaltspunkt.

 

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