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Bevölkerungswissenschaft

I. Begriff: Die Bevölkerungswissenschaft ist die Lehre vom Wesen, den Ursachen und Folgen der Bevölkerungsbewegung. Dieser liegt ein Zusammenwirken der Bevölkerungsvorgänge (Geburten, Sterbefälle, Wanderung) zugrunde, das mit eigenen Theorien, Instrumenten und Methoden analysiert wird. Der Begriff Demographie wird vielfach mit Bevölkerungswissenschaft synonym verwendet, bezeichnet im Deutschen aber die quantitativen Verfahren (Bevölkerungsmodelle, Demometrie) der Bevölkerungswissenschaft und wird auch formale Demometrie genannt. Der Bevölkerungsstand bezeichnet die Anzahl von Menschen auf einem begrenzten Gebiet zu einer bestimmten Zeit. Er bildet eine strukturierte Ganzheit, der nach demographischen, räumlichen, kulturellen und administrativen Merkmalen zu gliedern ist.
II. Methoden: Bevölkerungswissenschaft entwickelte eigene Methoden für Eintrittswahrscheinlichkeiten demographischer Ereignisse. - 1. Synthetische Ziffern: Die Summe der altersspezifischen Ereignisse, wie Geborenenziffern der Frauenjahrgänge, ergibt die zusammengefaßte Geborenenziffer (engl. total fertility rate) als die zu erwartende Gebärleistung der Frauen eines Jahres. In Deutschland liegt sie bei 1,4, in Kenia bei 6,5. - 2. Die Tafelmethode trägt von einer fiktiven Population anteilig die jährlichen Abgänge ab und errechnet - so im Fall der Sterbetafel - die Überlebenswahrscheinlichkeit in den einzelnen Altersklassen, bis in der Anzahl der zu durchlebenden Jahre die Lebenserwartung bei Geburt erscheint (Deutschland 1992 für Männer 73, für Frauen 79). - 3. Heiratstafeln folgen demselben Prinzip: Die Übertritte aus dem Junggesellenstand in den Stand der Ehe ergeben die Heiratswahrscheinlichkeit eines Geburtsjahrgangs. Die Tafelmethode findet auch Anwendung bei Evaluation von Familienplanungsprogrammen, indem in bestimmten Zeitabständen die Abbrecher/innen eruiert werden. - 4. Anwendungsgebiet bevölkerungswissenschaftlicher Methodik ist die Bevölkerungsprognose, die neben konventionellen Methoden wie Extrapolation verfeinerte Methoden anwendet. In der Kohorten-Komponenten-Methode werden die Prognosevarianten unmittelbar an der Alters- und Geschlechtsverteilung angebracht. Das Szenario ist die graphische Vorstellung davon, wie Varianten und Parameter auf ein Prognoseziel hin zu verändern sind. Modelle wollen die Reaktionsbreite und Elastizität von demographischen Parametern abbilden. Sie fallen meist in das Gebiet der formalen Demographie. Von Bevölkerungsprognosen zu unterscheiden ist die Bevölkerungsprojektion. Erstere hat den Anspruch, die Wirklichkeit zu erfassen. Die Bevölkerungsprojektion will einen (meist gegenwärtigen) Zustand in die Zukunft verlängern, um seine Tendenz besonders anschaulich zu machen (Querschnitt wird zu Anschauungszwecken in einen Längsschnitt verwandelt); gebräuchlich ist, aus der jährlichen Wachstumsrate die Verdopplungszeit einer Bevölkerung in Jahren zu errechnen. Für Deutschland ergibt das Jahrhunderte, für Kenia sind es nur 20 Jahre. Für Zwecke der Forschung und Politik werden Instrumente neu geschaffen oder vorhandene neu kombiniert. So entstehen neue Relationsmaße und Indikatorenbündel, die auf ihre Tauglichkeit und Sensibilität erprobt werden.
III. Bevölkerungsgeschichte: Sie kann schon auf antike Quellen zurückgreifen, schälte sich aber erst mit Aufklärung und Historismus als Unterdisziplin heraus. - 1. Allgemeine Forschungsobjekte: Siedlungsgeschichte und Geschichte der Wanderungsbewegungen waren die ersten Forschungsobjekte, bald ergänzt von der Geschichte der Familienformen und des Bevölkerungswachstums und seiner Faktoren: der Sterblichkeit und Fruchtbarkeit (i. S. des berechenbaren Nachwuchses). Die Faktoren werden historisch, wenn sie mit Formen der Existenzbewältigung (Nahrungsspielraum) und Formen der politischen Herrschaft in Zusammenhang gebracht werden. Bis zur Industriellen Revolution war die Sterblichkeit der dominante Faktor der Bevölkerungsbewegung. Dann wurde mit radikaler Umstrukturierung der Familien- und Siedlungsformen (von agrarisch lebenden Sippenverbänden zu Kleinfamilien in industriellen Ballungsgebieten) und der Lohnarbeit außer Haus die Kinderzahl dem wohlüberlegten Kalkül der Haushalte unterstellt - ein Vorgang, der sich bis zur Weltwirtschaftskrise 1929 hinzog. - 2. Spezielles Forschungsobjekt Weltbevölkerung: Neben kleinräumigen Studien rückte die Bevölkerungsgeschichte der Nationalstaaten und die Erd- oder Weltbevölkerung in den Mittelpunkt. Letztgenannte wächst, gemessen am unmerklichen Wachstum während der Evolution zum Homo sapiens sapiens, mit Beginn der Neuzeit superexponentiell. Die Schätzungen zur frühen Weltbevölkerung schwanken stark: Um 5000 v. Chr. müssen zwischen 5 und 20 Mio. gelebt haben, um Christi Geburt schon um 300 Mio. Ein signifikantes, d. h. in Jahresschritten erkennbares Bevölkerungswachstum gibt es erst mit Beginn der Neuzeit. Die um 1650 geschätzten 500 Mio. wachsen bis 1700 bei 0,1% jährlich auf 600 Mio., von da ab mit 0,2% auf 700 Mio. bis 1750; mit 0,4% bis 1800 auf 900 Mio. Um 1830 erreicht die Weltbevölkerung erstmals die Milliardengrenze. Die auf 0,5% gestiegene Wachstumsrate erbringt um 1900 1,65 Mrd. Menschen. Die Weltbevölkerung benötigte zur Verdoppelung immer kürzere Zeitabstände. Bis zur ersten Milliarde um 1830 ist die gesamte Evolution anzusetzen, zur zweiten um 1930 waren es nur 100 Jahre; bis zur dritten Milliarde um 1960 noch 30 Jahre; 1975 war nach 15 Jahren die vierte erreicht, und 1987 begrüßte der UN-Generalsekretär nach zwölf Jahren symbolisch den fünfmilliardsten Erdenbürger. 1998 werden wohl sechs Mrd. Menschen auf der Erde leben.
IV. Historische Demographie: 1. Bevölkerungstheorie ist die in sich gefügte Erkenntnis über Bevölkerungsbewegung, die sich wegen ihrer historischen Wandlungsfähigkeit ständig im Zustand empirisch begründeter Neuorientierung befindet. Theorierahmen, Diktion und Fragestellung werden vielfach von einer Bezugswissenschaft vorgegeben, meist einer der Human- und Kulturwissenschaften, vornehmlich Soziologie, Ökonomie und Geographie. Biologie und Medizin sind es seit einer Generation nicht mehr, obwohl es über Epidemiologie enge Berührungspunkte gibt und über die Ökologie eine Annäherung an Naturwissenschaften denkbar ist. Die Bevölkerungstheorie benutzt also die Grammatik der Human- und Kulturwissenschaften, die vom strengen Gesetzesbegriff analytischer Erkenntnistheorien abrückten und statt dessen aus wohlbegründeten Aussagenketten Hypothesenkonstrukte zu einer historischen Tendenz, die zu einer Bevölkerungssituation führt, ableiten. Die typischen, eigenständigen Paradigmen der Bevölkerungswissenschaft sind Makro-Theorien zum Wandel der Bevölkerungsstrukturen. Die darunterliegenden Phänomene, Familie, Haushalte, Kinderwünsche, demographisches Verhalten fallen in den Bereich der Mikro-Theorien. Sie werden dem Theorierahmen der jeweiligen Bezugswissenschaft überantwortet. Seit dem 18. Jh. gibt es zusammenhängende Aussagen, die es rechtfertigen, von einer systematischen Bevölkerungstheorie zu sprechen. Sie sind bis heute der geistige Widerhall von Bevölkerungsproblemen der Zeit, weil die offenkundigen Veränderungen nach Erklärungen drängen. Da die hohe Sterblichkeit jahrtausendelang ein Bevölkerungswachstum verhinderte, wurde in den Todesursachen Hunger, Seuchen, Krieg der erste soziale Bestimmungsgrund gesehen und auf einen begrenzten Nahrungsspielraum zurückgeführt. Die Bevölkerungsstruktur unterlag also einer "Buchhaltung des Todes", die die Geborenen, für die "am Tisch der Natur nicht gedeckt" ist, bald ins Grab holt. Das Menschenlos zu bessern, wäre vergeblich, weil jede Besserung zu mehr Nachwuchs und zum alten Elend zurückführen würde. So schrieb der engl. Ökonom Th. R. Malthus 1798 das "Bevölkerungsgesetz". Es enthält den "rohen Malthusianismus", den Malthus in der kurz darauf erfolgten Neuauflage entscheidend erweiterte. Doch wurde gerade das Pamphlet von 1798 die Grundlage des Bevölkerungsdenkens im 19. und 20. Jahrhundert, das sich wie ein andauerndes Für und Wider Malthus ausnimmt. Alle Bevölkerungsbewegungen wurden dem Malthusschen Schema einverleibt, welches gegebenenfalls modifiziert wurde. Seitdem unterlag die Bevölkerungstheorie einem schleichenden Paradigmenwechsel, der vom frühen oder rohen Malthusianismus wegführte, weil die unleugbaren Fortschritte in Europa ihn als Theorie der Hoffnungslosigkeit unglaubwürdig gemacht haben. Die erste Revision nahm noch Malthus selbst vor, als er geburtenverhindernde Sitten und Gebräuche entdeckte (Spätheirat, Askese), welche bei vielen Völkern die von ihm prophezeiten Katastrophen verhindert hätten. Die nächste Revision kam nach 1900, als die Industrielle Revolution ihre sozialen Früchte zeitigte und die Lebensform fast aller Stände deutlich verbesserte. Ein Geburtenrückgang - der Theorie nach unerwartet - war daran nicht unbeteiligt: wohlüberlegte Elternschaft und Geburtenkontrolle breiteten sich aus und trennten Sexualität vom Zeugungswillen. Die moderne bürgerliche Kleinfamilie mit knapp zwei Kindern (gegenüber mehr als fünf in der Hälfte aller Ehen noch um 1900) begann sich nach dem Ersten Weltkrieg zu verbreiten und hatte sich nach dem Zweiten Weltkrieg in allen Sozialschichten durchgesetzt. Bevölkerungstheorien sehen seitdem den Bevölkerungsprozeß als wechselseitige Anpassung von Gesellschaft und Demographie im Zuge allgemeiner Modernisierungen. Sie ist im Westen am gründlichsten und weitesten fortgeschritten. - 2. Theorie der Bevölkerungsvorgänge: Die meisten theoretischen Arbeiten der gegenwärtigen Bevölkerungswissenschaft konzentrieren sich auf die einzelnen Bevölkerungsvorgänge, auf deren Verknüpfungen untereinander und auf Einflußbereiche mit sozialen, ökonomischen und psychologischen Gesellschaftsfaktoren. Hier wiederum ist es die Fruchtbarkeit, die sich als besonders komplex erwiesen hat und in der Neuzeit die Sterblichkeit als strukturformenden Vorgang abgelöst hat. Es existieren Variablenkataloge (Kingsley Davis, Judith Blake, J. Bongaarts), die die Normen des generativen Verhaltens und der Kinderzahl in die übergreifende Wirtschafts- und Sozialstruktur einbetten und eine Makrokonzeption wiederherstellen (R. Freedman, R. Easterlin, F Arnold). Eine gewisse Sonderstellung behauptet die bevölkerungsrelevante Familientheorie, die in der Familiendemographie ein formal-analytisches Pendant hat. Theorien zu Sterblichkeit finden sich in der Medizinsoziologie und der Epidemiologie der Todesursachen. Theorien der Wanderung existieren als Motivationsanalyse, und als gruppensoziologische und sozialökologische Überlebensstrategien in Raum und Zeit. Kosten-Nutzen-Analysen von Wanderungsbewegungen für Herkunfts- und Aufnahmeländer und die internationalen Sogwirkungen nationaler Arbeitsmärkte verweisen schon in die Bevölkerungsökonomie.
Literatur: Bähr, J./Jentsch, C./Kuls, W., Bevölkerungsgeographie, Berlin, New York 1992; Felderer, Bevölkerungswissenschaft (Hrsg.), Bevölkerung und Wirtschaft, Berlin 1990; Hauser, J. A., Bevölkerungs- und Umweltproblem der Dritten Welt, 2 Bde., Bern, Stuttgart 1990/91; Mackenroth, G., Bevölkerungslehre. Theorie, Soziologie und Statistik der Bevölkerung, Berlin u. a. 1953; Recktenwald, H. C. (Hrsg.), Der Rückgang der Geburten - Folgen auf längere Sicht, Mainz 1989; Ross, J. A. (Hrsg.), International Encyclopedia of Population, 2 Bde., New York 1982; Schmid, J., Bevölkerung und soziale Entwicklung - Der demographische Übergang als soziologische und politische Konzeption, Boppard/Rhein 1984; Schmid, J. (Hrsg.), Bevölkerung - Umwelt - Entwicklung, Opladen 1984; Schultz, T. P., Economics of Population, Reading u. a. 1981.

 

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