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Utilitarismus

1. Begriff: Unter Utilitarismus (von lat. utilis = nützlich) versteht man eine Konzeption, die ethische Urteile über Handlungen und/oder Regeln auf den Nutzen stützt, den sie stiften: Erwünschte nicht-moralische Güter (z. B. Glück, Reichtum) qualifizieren jene Handlungen bzw. Regeln, die diese Güter maximieren, als "moralisch gut". Es handelt sich beim Utilitarismus daher um eine teleologische Ethikauffassung (Ethik 2).- 2. Bedeutung des U.: Die Formel vom "größten Glück der größten Zahl" wird bei F. Hutcheson 1725 geprägt. Bekannt wird sie allerdings erst mit J. Bentham, der einen ersten programmatischen Entwurf des Utilitarismus vorlegt. J. Mill, J. St. Mill, H. Sidgwick, F. Y. Edgeworth und G. E. Moore sind Utilitaristen. Gegenwärtig zählen bes. R. B. Brandt, J. C. Smart und J. C. Harsanyi zum Utilitarismus - Der Utilitarismus hat seine Bedeutung bis heute dem Anspruch zu verdanken, unabhängig von religiösen, metaphysischen, naturrechtlichen und allgemein weltanschaulichen Voraussetzungen allein auf der Grundlage der Anthropologie eine systematische und wissenschaftliche Ethik zu entwickeln. - 3. Bestimmungen des "Nutzens": Utilitaristische Konzeptionen unterscheiden sich u. a. darin, was sie als "Nutzen" ansehen. Das Spektrum reicht von pleasure, Glück bzw. Glückseligkeit (J. Bentham) über Lust, ferner Erkenntnis bzw. Liebe (J. St. Mill, G. E. Moore) bis zum offenen Nutzenbegriff der modernen Ökonomik. - 4. Theoretische Probleme des U.: Die theoretischen Probleme des Utilitarismus liegen teils in der axiomatischen Grundlegung, und sie betreffen hier die Konsistenz- und Vollständigkeitspostulate; Paradoxa wie das von K. J. Arrow und A. Sen spielen hier eine Rolle. Teils betreffen sie theoretische Probleme, die in der Nähe zur Ökonomik anzusiedeln sind; drei davon seien hier aufgeführt. a) Ein grundlegendes Problem stellt die Meßbarkeit des Nutzens dar. Ging man im 19. Jh. von der kardinalen Meßbarkeit aus, dominiert seit Beginn des 20. Jh. (V. Pareto) die lediglich ordinale Meßbarkeit. - b) Eng damit verbunden, aber nicht identisch, ist die Frage interpersoneller Nutzenvergleiche. Im 19. Jh. hielt man sie für möglich, heute dagegen für wissenschaftlich nicht durchführbar. Dagegen bringt J. C. Harsanyi zwar das Argument vor, daß bei politischen und alltäglichen Entscheidungen faktisch immer interpersonelle Nutzenvergleiche vorgenommen werden (müssen), aber die dafür verwendeten theoretischen Grundlagen bleiben unklar. - c) Die berühmte Formel vom "größten Glück der größten Zahl" ist vor allem auch deswegen unklar, weil über die Verteilung nichts ausgesagt wird. Anfangs ging man unreflektiert davon aus, daß die Nutzensumme in einer Gesellschaft zu maximieren sei. Dagegen wird heute durchweg das Konzept der Maximierung des Durchschnittsnutzens oder Pro-Kopf-Nutzens zugrundegelegt. - 5. Handlungs-Utilitarismus und Regel-U.: a) Handlungs-U.: Nach dem traditionellen Utilitarismus ist eine Handlung dann moralisch gut, wenn sie die Nutzensumme bzw. den Pro-Kopf-Nutzen maximiert. Diese Auffassung macht die Erfüllung moralischer Normen jeweils von situativen Einschätzungen abhängig: Versprechen müßten z. B. nur dann gehalten werden, wenn sich dieses aktuell als nützlicher erweist als ein Bruch des Versprechens; das widerspricht allerdings den moralischen Intuitionen der meisten Menschen. - b) Auf diese Schwierigkeiten versucht der Regel-Utilitarismus zu antworten, von dem der traditionelle Utilitarismus jetzt als Handlungs-U., Akt-U., unterschieden wird. Der Regel-Utilitarismus beurteilt eine Handlung dann als moralisch gut, wenn sie einer Regel gehorcht, die ihrerseits, als Regel im Vergleich mit anderen Regeln, bei allgemeiner Befolgung den Gesamt- bzw. Durchschnittsnutzen erhöht. Die Beurteilung einer Handlung ist damit im Regel-Utilitarismus ein zweistufiger Prozeß; die Frage nach dem Nutzen wird nicht an eine einzelne Handlung gerichtet, sondern grundsätzlich nur an die Regel. Dies schließt den Regel-Utilitarismus an die Neue Institutionenökonomik an. - 6. Utilitarismus und Ökonomik: Nicht nur waren an der Entwicklung des Utilitarismus Ökonomen führend beteiligt. Der Utilitarismus hat auch aufgrund der grundlegenden Kategorie "Nutzen" auf breiter Front Eingang in die moderne Ökonomik gefunden (Kosten-Nutzen-Analyse). Selbst Autoren wie R. Hare oder J. L. Mackie, die dem Utilitarismus durchaus kritisch gegenüberstehen, und sogar ausgesprochene U.-Kritiker wie A. Sen und B. Williams heben hervor, daß zumindest in Teilbereichen auf Rationalisierungen nach utilitaristischem Argumentationsmuster nicht verzichtet werden kann. - 7. Ethische Kritik am U.: Es bleibt aus der Sicht der Ethik ein grundlegender, konzeptionell bedingter Kritikpunkt bestehen: Dem Utilitarismus ist es bis heute nicht gelungen, die intuitiven Moralvorstellungen der meisten Menschen in bezug auf die "Autonomie" der "Person" - auf ihre grundlegenden Rechte, auf die Verbindlichkeit moralischer Regeln - theoretisch zu rekonstruieren. Selbst Harsanyi, der mit der Tradition des Utilitarismus den Nutzen aller Individuen ein gleiches Gewicht beilegt und dies mit dem demokratischen Prinzip begründet, kommt nicht darum herum, die individuellen Nutzen zu aggregieren, bevor die Maximierung des Durchschnittsnutzens vorgenommen werden kann. Damit können Individuen bzw. ihre Nutzen mit den Nutzen anderer verrechnet werden - mit der Folge, daß Nutzeneinbußen einzelner von größeren Nutzengewinnen anderer aufgewogen werden können. Die Autonomie der Person und die Menschenrechte stehen damit prinzipiell zur Disposition. In der Sprache von J. Rawls, der seine "Theorie der Gerechtigkeit" als Gegenentwurf gegen den Utilitarismus versteht, bedeutet dies: "Der Utilitarismus nimmt die Verschiedenheit der einzelnen Menschen nicht ernst." - Innerhalb des Utilitarismus gibt es Versuche, diesen Bedenken Rechnung zu tragen: Die besonders starke Gewichtung von individueller Freiheit und Menschenrechten im Vergleich zu anderen Gütern, aber auch die Behauptung, daß langfristig Systeme mit individueller Freiheit und Menschenrechten immer erfolgreicher seien als Systeme ohne diese Rechte, gehen in diese Richtung. - 8. Weiterentwicklung des U.: Solche Überlegungen haben bei einer Reihe von Autoren, die die theoretischen Leistungen des Utilitarismus anerkannt und erhalten wissen möchten, dazu geführt, den Utilitarismus zu ergänzen, vor allem durch das Prinzip der Gerechtigkeit: so D. Lyons, R. Trapp. Andere wie R. B. Brandt entwickeln den Regel-Utilitarismus in einer Weise weiter, daß er für Kritiker, z. B. für Rawls oder Williams, seinen utilitaristischen Charakter verliert. Wieder andere wie J. L. Mackie oder R. Hare schränken den Bereich der sinnvollen Verwendung utilitaristischer Argumentationen auf Teilbereiche oder besondere Fälle der Ethik ein. - Vgl. auch Verteilungspolitik III.

 

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