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Methodologie der Betriebswirtschaftslehre

I. Allgemeine Wissenschaftslehre und spezielle betriebswirtschaftliche Methodologie: 1. Gegenstand der Wissenschaftslehre (auch Wissenschaftstheorie oder Methodologie) sind die verschiedenen Einzelwissenschaften (Mathematik, Physik, Biologie, Psychologie, Betriebswirtschaftslehre etc.), insbes. die dort zur Anwendung kommenden Methoden und die auf dieser Grundlage hervorgebrachten Ergebnisse (Theorien, Modelle etc.). Insofern handelt es sich um eine Metadisziplin, die ihrerseits Teilbereich der Erkenntnistheorie ist. Sie befaßt sich speziell mit der wissenschaftlichen Erkenntnis und den Möglichkeiten zu deren Förderung. Insofern kann von einer Technologie der Erkenntnisgewinnung bzw. des wissenschaftlichen Problemlösungsverhaltens gesprochen werden. - 2. Methodologische Reflexionen wurden zunächst fast ausschließlich innerhalb der Philosophie angestellt. Allmählich haben sich damit aber auch die an den Grundlagenproblemen ihrer Disziplin interessierten Vertreter der Einzelwissenschaften befaßt. Eine andere Entwicklung innerhalb der neueren Methodologie betrifft die Verlagerung von der Diskussion ausschließlich statischer Aspekte (z. B.: Was sind Theorien? Wozu werden Theorien verwendet?) zur Dynamik der Erkenntnisgewinnung (z. B.: Wie entstehen Theorien? Wie werden Theorien oder ganze Forschungsprogramme weiterentwickelt?), was gleichzeitig zu einer stärkeren Berücksichtigung wissenschaftshistorischer Tatbestände führte. - 3. Von der Wissenschaftstheorie darf keineswegs erwartet werden, daß sie den Einzeldisziplinen ein allseits akzeptiertes Instrumentarium zur Verfügung stellt. Vielmehr ist davon auszugehen, daß es auch hier - wie in allen lebendigen Wissenschaften - kontroverse Standpunkte gibt. Die Tatsache, daß sich methodologische Reflexionen in die Einzelwissenschaften hineinverlagert haben, führt u. a. zur Entwicklung von besonderen Methodologien. Anlaß dazu sind (mitunter vermeintliche) disziplinspezifische Probleme, für die es in anderen Wissenschaften kein Äquivalent gibt oder zu geben scheint (spezielle Lösungsmethoden, historisch bedingte Tatbestände, Besonderheiten des Objektbereichs etc.). Die Entwicklung eigenständiger Methodologien ist allerdings gelegentlich mit Gefahren verbunden, und zwar insbes. dann, wenn sich die Bemühungen darauf richten, die Autonomie einer Disziplin zu begründen. Bezogen auf die Betriebswirtschaftslehre spielt hier die ehemals weit verbreitete Unterscheidung zwischen dem Erfahrungsobjekt und dem Erkenntnisobjekt der Disziplin eine Rolle. Während mit ersterem der gesamte Gegenstand ("Betrieb") gemeint ist, betrifft letzteres lediglich ausgewählte Tatbestände, die mit Hilfe von Identitätsprinzipien gewonnen werden sollen. Als solche wurden dabei insbes. das Prinzip der Wirtschaftlichkeit und das Prinzip der Rentabilität genannt. Faktisch haben sich derartige Prinzipien nie als trennscharf erwiesen, denn die verschiedenen Fachvertreter verstanden sie stets auf eine Weise auszulegen, die ihren persönlichen Vorstellungen vom Erkenntnisprojekt entsprachen (z. B. Einbeziehung von "Gesamtwirtschaftlichkeit" durch E. Schmalenbach oder F. Schmidt; Berücksichtigung sozialer Faktoren durch H. Nicklisch). Ferner besteht die Gefahr, daß das Fach auf diese Weise den Ansprüchen nicht gerecht zu werden vermag, die an eine Erfahrungswissenschaft zu stellen sind (vgl. Abschnitt II). - Grundsätzlich ist die Herausbildung einer speziellen betriebswirtschaftlichen Methodologie jedoch zu begrüßen. Ihre Aufgabe kann darin bestehen, die Distanz zwischen der allgemeinen Wissenschaftslehre und den speziellen Methodenproblemen der Disziplin zu überbrücken. Dies erfolgt beispielsweise dadurch, daß die Bedeutung von erfahrungswissenschaftlichen Theorien für die Bewältigung der praktischen Probleme des Wirtschaftens dargelegt wird. Andererseits ist es aber auch durchaus möglich, daß einzelwissenschaftliche Erkenntnisse Anlaß sein können, allgemein-methodologische Fragestellungen in einem veränderten Licht zu sehen.
II. Aufgaben der Betriebswirtschaftslehre in methodologischer Sicht: 1. Heute wird (zumeist stillschweigend) davon ausgegangen, daß die Betriebswirtschaftslehre als Erfahrungswissenschaft (auch: Real-, Wirklichkeits- oder empirische Wissenschaft) zu konzipieren ist. Im Hinblick auf die inhaltliche Einlösung des erfahrungswissenschaftlichen Anspruchs gibt es allerdings bemerkenswerte Unterschiede (vgl. Abschnitt III). - 2. Von der neueren Wissenschaftslehre werden den Erfahrungswissenschaften insbes. zwei Aufgaben zugewiesen: einerseits die Erklärung disziplinspezifischer Sachverhalte anzustreben (kognitives Ziel; Erkenntnisinteresse), andererseits Hilfestellung bei der Gestaltung des jeweils interessierenden Realitätsausschnittes (praktisches Ziel; Gestaltungsinteresse, vgl. Erkenntnisinteresse) zu bieten. Zwischen beiden Zielsetzungen bestehen enge Zusammenhänge. Eine Erklärung ist ein Vorgang, bei dem der zu erklärende Sachverhalt (Explanandum) aus theoretischen Gesetzmäßigkeiten und gewissen Rand- bzw. Anwendungsbedingungen (beides zusammen: Explanans) auf logisch-deduktivem Weg abgeleitet wird. Diese Definition läßt erkennen, daß Erklärungen nur dann möglich sind, wenn eine Wissenschaft bereits im Besitz von theoretischen Gesetzmäßigkeiten ist bzw. auf solche zurückzugreifen vermag. - 3. Hier wird die Ansicht vertreten, daß es keine speziell betriebswirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten gibt und daß daher auch die Suche nach solchen erfolglos bleiben muß. (Andere Fachvertreter glauben an die Möglichkeit, betriebswirtschaftliche Gesetze zu finden.) Das heißt allerdings nicht, daß die Disziplin nicht auf Aussagen mit Gesetzescharakter zurückzugreifen vermag. Solche können nämlich in allgemeinen Verhaltensprinzipien gesehen werden, die in erster Linie als psychologisch anzusehen sind. (Auch dem Bild vom Homo oeconomicus liegen psychologische Annahmen zugrunde.) Sie werden auf betriebswirtschaftlich relevante Sachverhalte angewandt. Bei einer derartigen Sichtweise ist die Disziplin einerseits als spezielle Sozialwissenschaft, andererseits als angewandte Wissenschaft zu begreifen. Gleichzeitig zeichnen sich Möglichkeiten zur systematischen Integration der Betriebswirtschaftslehre in die Sozialwissenschaften ab, ohne daß das Fach seine relative Eigenständigkeit verliert. Letztere ergibt sich u. a. aus der Existenz disziplinspezifischer Erklärungsprobleme. - 4. Die enge Beziehung zwischen dem kognitiven und dem praktischen Ziel wird sichtbar, wenn man bedenkt, daß sich Erklärungen im Prinzip auch zur Prognose von künftigen Ereignissen und zum technologischen Gebrauch eignen. Ferner ist eine Verwendung zum Zweck der Kritik bestehender Zustände möglich. Werden Erklärungen für typische Situationen gebildet, dann kann von Erklärungsmodellen gesprochen werden. Ihnen kommt innerhalb der Betriebswirtschaftslehre große Bedeutung zu, z. B. in Form eines Modells des leistungsbezogenen Verhaltens, eines Führungsmodells o. ä. Eine zweite wesentliche Modellkategorie stellen Entscheidungsmodelle dar, wie sie uns insbes. in Form der verschiedenen Verfahren des Operations Research begegnen. Dabei ist allerdings darauf zu achten, daß den realen Anwendungsbedingungen Rechnung getragen wird (was vielfach nicht der Fall ist). Schließlich ist drittens auf Beschreibungsmodelle zu verweisen, die im Fach v. a. in Gestalt des betrieblichen Rechnungswesens eine Rolle spielen. Der gemeinsame Zweck aller drei Modellkategorien besteht darin, Informationen für die Lösung von Gestaltungsproblemen zu liefern. - Vgl. auch Modell.
III. Pluralistische Tendenzen in der gegenwärtigen Betriebswirtschaftslehre: 1. Für die gegenwärtige Betriebswirtschaftslehre ist charakteristisch, daß es kein allseits akzeptiertes Lehrgebäude gibt. Es existieren vielmehr mehrere, teilweise recht unterschiedliche Schwerpunkte akzentuierende Ansätze bzw. Wissenschaftsprogramme: Das Fach befindet sich in einer pluralistischen Phase. Innerhalb der neueren Methodologie wird der positive Wert des wissenschaftlichen Pluralismus systematisch betont. Dahinter verbirgt sich die Einsicht in die prinzipielle Fehlbarkeit der menschlichen Erkenntnis sowie die Überzeugung, daß sich diesem Sachverhalt durch Ideenvielfalt (Pluralismus) am besten Rechnung tragen läßt. Dazu ist es allerdings notwendig, Ideenvielfalt gleichzeitig als Ideenkonkurrenz zu begreifen. Es erscheint, mit anderen Worten, eine Beziehung der wechselseitigen Kritik wünschenswert. - 2. Das pluralistische Stadium innerhalb der Betriebswirtschaftslehre begann, als die Lehre vom Kombinationsprozeß der Produktionsfaktoren (E. Gutenberg) allmählich an Überzeugungskraft verlor (faktortheoretischer Ansatz). Obwohl es sich bei diesem Programm um einen in sich sehr geschlossenen Ansatz handelt, geriet die Disziplin gleichzeitig in einen Zustand der Abgeschlossenheit, der zunehmend als unbefriedigend empfunden wurde. Mit dem entscheidungsorientierten Programm, in dessen Mittelpunkt der Entscheidungsbegriff steht, wurde u. a. die Öffnung zu den sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen vollzogen (Entscheidungsorientierte Betriebswirtschaftslehre). Innerhalb der verschiedenen Spielarten der systemorientierten Betriebswirtschaftslehre betont man den Ganzheitscharakter des Gegenstandes der Disziplin und die zwischen den einzelnen Elementen bestehenden Wechselwirkungen. Das Sozialwissenschaftliche Institut des Deutschen Gewerkschaftsbundes (WSI) hielt es für notwendig, der traditionellen "kapitalorientierten" Betriebswirtschaftslehre eine arbeitsorientierte Einzelwirtschaftslehre (AOEWL) gegenüberzustellen, um sich den speziellen Problemen der "abhängig Beschäftigten" besser (oder sogar überhaupt erst) annehmen zu können. Als Wissenschaftsprogramm angelegt ist ferner die verhaltenstheoretische Betriebswirtschaftslehre, in deren Zentrum der wirtschaftende und von Wirtschaft betroffene Mensch steht. Beachtung findet in jüngster Zeit die Weiterentwicklung des neoklassischen Ansatzes zur Neuen Institutionellenökonomik (Hauptvarianten: Theorie der Verfügungsrechte, Transaktionskostentheorie (Transaktionskostenökonomik und Agency-Theorie). Darüber hinaus zeichnen sich die Konturen einer ökologisch orientierten Betriebswirtschaftslehre ab. Charakteristisch für die neuere Betriebswirtschaftslehre ist ferner eine vergleichsweise starke Betonung der empirischen Forschung. Ihr wird im Rahmen aller angeführten Programme Bedeutung beigemessen.


Literatur: Köhler, Theoretische Systeme der Betriebswirtschaftslehre im Lichte der neueren Wissenschaftslogik, 1966; Fischer-Winkelmann, Methodologie der Betriebswirtschaftslehre, 1971; Jehle, Über Fortschritt und Fortschrittskriterien in betriebswirtschaftlichen Theorien, 1973; Chmielewicz, Forschungskonzeptionen der Wirtschaftswissenschaft, 2. Aufl. 1979; Raffee/Abel (Hrsg.), Wissenschaftstheoretische Grundfragen der Wirtschaftswissenschaften, 1979; Schanz, Wissenschaftsprogramme der Betriebswirtschaftslehre, in: Bea/Dichtl/Schweitzer (Hrsg.), Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, Bd. 1: Grundfragen, 7. Aufl. 1996.

 

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