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Wirtschaftsgeschichte als wissenschaftliche Disziplin

1. Definition und Gegenstand: Der Begriff "Wirtschaftsgeschichte" bezeichnet a) die Gesamtheit der planvollen Handlungen und Einrichtungen der Menschen zur Deckung ihres wirtschaftlichen Bedarfs in der Vergangenheit, b) die wissenschaftliche Beschreibung und Analyse dieses Prozesses (Wissenschaftsdisziplin). Als solche untersucht Wirtschaftsgeschichte (W.) den Zeitraum, für den Informationen über das Wirtschaften der Menschen überliefert sind. Sie ist Teil der Wirtschafts- wie der Geschichtswissenschaften. Da Wirtschaft und Gesellschaft eng miteinander verknüpft sind, wird die Wirtschaftsgeschichte als wissenschaftliche Disziplin an den Universitäten meist gemeinsam mit der Sozialgeschichte im Fach "Wirtschafts- und Sozialgeschichte" gelehrt. - 2. Methoden, Quellen, Themen: Die Wirtschaftsgeschichte als wissenschaftliche Disziplin ist, ihrem Doppelcharakter als ökonomischer und historischer Disziplin entsprechend, sowohl den systematischen, analytisch-synthetischen als auch den hermeneutischen, historisch-kritischen Wissenschaften verpflichtet. Beide Ansätze stehen in produktiver Spannung zueinander. Die Wirtschaftsgeschichte als wissenschaftliche Disziplin muß die Zeitgebundenheit und Individualität ihrer Gegenstände beachten, diese jedoch auch in allgemeine Entwicklungen einordnen und generalisieren. - a) Zu den Methoden gehören historische Aktenanalyse und Ökonometrie, Typen- und Modellbildung. Die Periodisierung des Gegenstandes kann sich an historisch-politischen Epochen orientieren (z. B. Weimarer Republik, NS-Zeit) oder an der zeitlichen Erscheinung von Sachverhalten, Entwicklungen und deren Folgen (Manufaktur, Industrialisierung, Protoindustrialisierung). - b) Die Quellen der Wirtschaftsgeschichte als wissenschaftliche Disziplin umfassen alle Texte, Gegenstände und Tatsachen, aus denen man Kenntnis der Wirtschaft in der Vergangenheit gewinnen kann. Dies umschließt (1) Schriftgut mit den Untergruppen Traditionsquellen (z. B. Memoiren, Tagebücher) und Überreste (z. B. das prozeß-produzierte Geschäftsschriftgut in den Unternehmen und Behörden wie Steuer-, Zoll-, Abgabenverzeichnisse, Lohn- und Gehaltslisten, Haushaltsrechnungen, Verträge, Privilegien, Zunftordnungen, Gesetze, Korrespondenz); (2) Sachquellen, z. B. audiovisuelle Träger, Münzen, Handwerkszeug, Maschinen, Waffen, Möbel, Kleidung, Schmuck etc.; (3) Tatsachen, z. B. Verhaltsweisen (Sitten, Gebräuche), räumliche und sprachliche Sachverhalte wie Grenzverläufe, Siedlungs-, Flur-, Befestigungsformen, Anglizismen etc. - c) Die Themen der Wirtschaftsgeschichte als wissenschaftliche Disziplin umfassen die historische Entwicklung, Probleme und Einzelfragen von Volkswirtschaften ebenso wie die einzelner Branchen, Sektoren, Wirtschaftssubjekte und Institutionen. Wirtschaftsgeschichte als wissenschaftliche Disziplin dient somit auch als Oberbegriff für die Agrar-, Handwerks- und Industrie-, Verkehrs- und Handelsgeschichte und weitere Untergliederungen wie die Banken-, Sparkassen-, Geld- und Steuergeschichte. Wie jede Wissenschaft bedient sie sich der Ergebnisse der Nachbardisziplinen. Dies sind unter anderem die Rechts-, Verfassungs-, Bevölkerungs-, Siedlungs-, Kirchen-, Technikgeschichte und die Historische Geographie. Hilfswissenschaften der Wirtschaftsgeschichte als wissenschaftliche Disziplin sind u. a. die Historische Statistik, Numismatik, Metrologie und Genealogie. Zu den sie tragenden Wissenschaften Volks-, Betriebswirtschaft und Allgemeine (Politische) Geschichte steht die Wirtschaftsgeschichte als wissenschaftliche Disziplin in einem kreativen Spannungsverhältnis. Sie benutzt, erprobt und ergänzt deren Theorien, trägt zur Gewichtung und Einordnung von deren Innovationen und zu deren Erkenntnisfortschritt bei. Sie erweitert die Perspektive der historischen und systematischen Wissenschaften. Sie hilft, bei Problemen der Ökonomie nicht immer wieder bei Null beginnen zu müssen und frühere Fehler nicht zu wiederholen. Freilich ist umstritten, wie weit man im einzelnen aus der Geschichte lernen kann. - 3. Geschichte des Fachs in Deutschland: Die wirtschaftshistorische Forschung hat zahlreiche Wurzeln, vornehmlich in der klassischen Nationalökonomie und, mehr noch, der jüngeren historischen Schule der Nationalökonomie, ferner in der Landes- und der Kulturgeschichte. a) 19. Jahrhundert: Der Begriff Wirtschaftsgeschichte als wissenschaftliche Disziplin trat um 1850 an die Stelle der "Wirtschaftlichen Geschichte". Die erste deutsche Wirtschaftsgeschichte als wissenschaftliche Disziplin schrieb der Nationalökonom K.Th. von Inama-Sternegg 1879. Mit der Historisierung der Geisteswissenschaften bildete sich im 19. Jahrhundert die jüngere historische Schule der Nationalökonomie heraus und untersuchte systematisch wirtschaftsgeschichtliche Fragen (insbes. G. Schmoller). - b) 20. Jahrhundert: Seit der Weimarer Republik verlagerte sich das Interesse der Wirtschaftswissenschaften stärker zu gegenwartsbezogenen Fragen, obgleich viele Ökonomen auch weiterhin historische Untersuchungen durchführten, z. B. J. A. Schumpeter, A. Spiethoff (Konjunkturforschung) und Wirtschaftsgeschichte als wissenschaftliche Disziplin G. Hoffmann (Wachstumsanalysen, volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen). Den methodischen Ansatz, "naturwissenschaftliche" Kausalitäten zu begreifen, erweiterten um die Jahrhundertwende M. Weber, Wirtschaftsgeschichte als wissenschaftliche Disziplin Sombart und andere, indem sie kulturelle, politische und andere Dimensionen in die Wirtschaftsgeschichte einbezogen. Die erste Dozentur für Wirtschaftsgeschichte als wissenschaftliche Disziplin erhielt 1909 in Köln Bruno Kuske (1876-1964). Seit den 30er Jahren werden verstärkt quantitative Methoden eingesetzt. Sie erlebten einen weiteren Aufschwung seit den 70er Jahren durch Einflüsse der ökonometrisch und modelltheoretisch ausgerichteten New Economic History aus den USA ("Cliometrics"; A. H. Conrad, J. R. Meyer, R. Wirtschaftsgeschichte als wissenschaftliche Disziplin Fogel u. a.) und von deren kontrafaktischen Fragen ("Was wäre geschehen, wenn..."). Seit den fünfziger Jahren nahm die deutsche Wirtschaftsgeschichte als wissenschaftliche Disziplin auch Einflüsse der strukturgeschichtlich orientierten französischen Annales-Schule und deren Konzept einer Gesamtgeschichte mit Elementen von langer Dauer auf. - c) Gegenwärtig gewinnen theoretische Ansätze wie die Property Rights-Theorie (Verfügungsrechte) bzw. die Neue Institutionenökonomik an Gewicht. Zu den Themen, die in der jüngeren deutschen Wirtschaftsgeschichte als wissenschaftliche Disziplin das meiste Interesse fanden, gehören die Industrialisierung, einzelne Wirtschaftsräume, große Unternehmen und der an Bedeutung zunehmende tertiäre Sektor. Durch die aktuelle Entwicklung in Mittel- und Osteuropa gewinnen ordnungspolitische und Transaktionsprobleme sowie die Beziehungen zwischen Staat und Wirtschaft insgesamt mehr Aufmerksamkeit.


Literatur: Ambrosius, G./Petzina, D./Plumpe, Wirtschaftsgeschichte als wissenschaftliche Disziplin (Hrsg.), Moderne Wirtschaftsgeschichte. Eine Einführung für Historiker und Ökonomen, München 1996; Walter, R., Einführung in die Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Paderborn etc. 1994.

 

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Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland bis 1989/90

 

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