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Konjunkturtheorie

Teil der Volkswirtschaftstheorie, der sich mit dem Erklären des Zustandekommens von zyklischen Bewegungen (Konjunktur, Konjunkturschwankungen) meist makroökonomischer Größen beschäftigt.
I. Geschichte: Nach Haberler (1955) lassen sich die wichtigsten Konjunkturtheorie im 19. und frühen 20. Jahrhundert wie folgt einteilen: 1. Monetäre K.: a) Hauptvertreter: R. G. Hawtrey. - b) Darstellung: Verantwortlich für einen Aufschwung ist eine Senkung des Diskontsatzes mit nachfolgender erhöhter Lagerhaltung, steigenden Auftragseingängen und erhöhter Produktion. Institutionelle Hemmnisse führen dazu, daß die Kreditexpansion nicht aufrechterhalten werden kann oder sogar eingeschränkt werden muß. Der Rückgang der Nachfrage veranlaßt eine Senkung der Preise, damit eine Senkung der Lagerhaltung und einen Rückgang der Produktion. Ein unterer Wendepunkt ist erreicht, wenn die Bankenliquidität soweit angewachsen ist, daß die Zinssätze gesenkt werden müssen. - 2. Überinvestitionstheorien: a) Hauptvertreter: v. Hayek und Spiethoff. - b) Darstellung: Ausgangspunkt ist das empirisch belegbare Phänomen, daß bei der Aufteilung einer Wirtschaft in zwei Sektoren der Investitionsgütersektor stärkeren Konjunkturschwankungen unterliegt als der Konsumgütersektor. Während eines Aufschwungs wird der Investitionsgütersektor stärker ausgebaut als der Konsumgütersektor. Es entsteht nach einiger Zeit ein bemerkbares Ungleichgewicht zwischen der Kapazität der Investitionsgüterindustrie und den Investitionserfordernissen der Konsumgüterindustrie. Investitionsprojekte in der Investitionsgüterindustrie werden nicht beendet, und ein Abschwung wird eingeleitet. Als auslösendes Moment der Konjunkturbewegung werden angesehen: (1) monetäre Effekte wie eine Diskrepanz zwischen "natürlichem" (Gleichgewichts-) Zinssatz und Marktzinssatz (monetäre Überinvestitionstheorie) oder (2) nicht-monetäre Effekte wie Erfindungen, Erschließung neuer Märkte (nicht-monetäre Überinvestitionstheorie). - 3. Unterkonsumtionstheorien: a) Hauptvertreter: Malthus, v. Hayek. - b) Darstellung: Schwerpunktmäßig erfolgt Konzentration auf die Erklärung des oberen Wendepunktes im Konjunkturverlauf. Die im Konjunkturaufschwung erfolgte Kapitalakkumulation ermöglicht eine drastische Erhöhung der Konsumgüterproduktion. Da Löhne und Gehälter nicht im gleichen Ausmaß wie die Konsumgüterpreise steigen, fehlt es den privaten Haushalten an Kaufkraft, so daß dem vermehrten Konsumgüterangebot eine zu geringe Nachfrage gegenübersteht. Eine ungleiche Einkommensverteilung kann den Nachfragemangel verschärfen. Bezieher hoher Einkommen sparen (und investieren) im Aufschwung zuviel und konsumieren somit zu wenig. - 4. Schumpetersche K.: Im Mittelpunkt dieser soziologische, technologische und wirtschaftliche Erwägungen miteinander verknüpfenden Konjunkturtheorie steht der dynamische Unternehmer. Er ist derjenige, der aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur neue Erfindungen, die in gewisser Regelmäßigkeit auftreten, als erster wirtschaftlich nutzt. Die entstehenden (temporären) Monopolgewinne veranlassen andere Unternehmer, seinem Beispiel zu folgen. Der durch ihren Marktzutritt einsetzende Rückgang der Monopolgewinne führt schließlich zu einem Konjunkturabschwung. Ein neuer Aufschwung setzt erst wieder ein, wenn neue Erfindungen wirtschaftlich umgesetzt werden.
II. Moderne Theorien: Während die unter I. genannten Konjunkturtheorie den Konjunkturablauf überwiegend verbal erklären, stehen seit Beginn der fünfziger Jahre solche Konjunkturtheorie im Vordergrund, die mit Hilfe formaler Modelle den Konjunkturverlauf erklären. Diese Modelle sind so aufgebaut, daß sie zu einem zyklischen Verhalten der ökonomischen Variablen führen. Unter formalen Gesichtspunkten bestehen daher die meisten dieser Konjunkturmodelle aus Differenzengleichungen, Differentialgleichungen zweiter oder höherer Ordnung oder aus Differentialgleichungssystemen. - 1. Deskriptive Konjunkturmodelle: In diesen theoretischen Modellen werden Konjunkturschwankungen auf Zeitverzögerungen (Lag) bzw. auf eine geeignete zeitliche Struktur zurückgeführt, wie sie in Differenzen- oder Differentialgleichungen zum Ausdruck kommen. Optimierungsansätze und Zufallseinflüsse spielen in diesen Modellen keine Rolle, vielmehr wird die Erklärung des Konjunkturphänomens auf das simultane Zusammenwirken (meist makro-) ökonomischer Größen zurückgeführt. a) Lineare Konjunkturmodelle: Ein Konjunkturmodell heißt linear, wenn seine zugrundeliegenden dynamischen Gleichungen linear sind oder wenn seine Eigenschaften nicht von denen linearer Systeme abweichen. - Beispiele: Zu den bekanntesten linearen Konjunkturmodellen zählen (1) die Multiplikator-Akzelerator-Modelle von P.A. Samuelson (1939) und J. Hicks (1950). Das Zusammenwirken von linearem Multiplikator (über die Konsumfunktion) und linearem Akzelerator (über die Investitionsfunktion) führt zu einer linearen Differenzengleichung zweiter Ordnung, deren qualitative Lösungen abhängig sind von den Werten der unterstellten Parameter des Systems. (2) Weitere wichtige lineare Modelle stammen von Metzler (Lagerhaltung), Kalecki (Investitionsverhalten) und Phillips (stetiges Multiplikator-Akzelerator-Modell). Als Lösungen werden unterschieden: gedämpfte Schwingungen (die Amplituden der Variablen verschwinden im Zeitverlauf), harmonische Schwingungen (die Amplituden der Variablen sind konstant im Zeitverlauf) und explosive Schwingungen (die Amplituden steigen beständig, so daß die Werte der Variablen über alle Grenzen anwachsen). Vom Standpunkt der Konjunkturtheorie sind lediglich gedämpfte Schwingungen relevant, da explosive Schwingungen in der Realität nicht vorkommen und harmonische Schwingungen darüber hinaus nur für exakt eine Parameterkonstellation denkbar sind. Da gedämpfte Schwingungen den Konjunkturverlauf im Zeitablauf verschwinden lassen, sind in solchen linearen Modellen andauernde exogene Schocks notwendig, um persistente Konjunkturschwankungen zu erzeugen. Damit wird letztlich die Erklärung des Konjunkturphänomens auf exogene Faktoren zurückgeführt. (3) Zu den linearen Konjunkturmodellen zählen auch die mittelfristigen Modelle mit rationalen Erwartungen. Eine besondere Rolle kommt hierbei den Modellen der Neuen Klassischen Makroökonomik zu. Rationale Erwartungen im Zusammenhang mit Informationsdefiziten und Störungen im monetären Bereich sind für die Auslösung und das Andauern von Konjunkturschwankungen verantwortlich (Lucas 1975). - b) Nicht-lineare Konjunkturmodelle: Sie ermöglichen die Erzeugung von Schwingungen, die nicht auf exogene Einflüsse angewiesen sind. Die mathematische Struktur der Modelle ist allein für das Auftreten von anhaltenden Konjunkturschwankungen verantwortlich. Zu den frühesten nicht-linearen Modellen zählen die Modelle von Kaldor (1940), Hicks (1950) und Goodwin (1951). Unterschieden werden können sie nach der Art des verwendeten mathematischen Instrumentariums: (1) Modelle unter Verwendung des Poincaré-Bendixson-Theorems: Grundlage ist ein zwei-dimensionales Differentialgleichungssystem mit instabilem Gleichgewicht. Wird die Dynamik durch ein abgeschlossenes Gebiet begrenzt, entstehen Grenzzyklen. (2) Modelle unter Verwendung von Bifurkationstheorien: Grundlage ist ein zwei- oder mehrdimensionales Differential- oder Differenzengleichungssystem. Wird ein Parameter des Modells beständig erhöht, kann ein zunächst stabiles Gleichgewicht instabil werden. Beim Übergang von stabilem zu instabilem Gleichgewicht entstehen (Konjunktur-) Schwankungen. (3) Räuber-Beute-Modelle: Die Variablen eines Konjunkturmodells verhalten sich zueinander wie Räuber- und Beute-Populationen in biologischen Modellen (z. B. Lohn- und Beschäftigungsquote). Die Anfangswerte der Variablen bestimmen die (konstante) Amplitude des entstehenden Zyklus. (4) Neuere Ansätze, die in mittelfristigen makroökonomischen Modellen die mathematische Eigenschaft des Chaos nachweisen (Chaostheorie) sowie jene ökonomischen Modelle, in denen sog. Katastrophen, d. h. große plötzliche Sprünge der Variablen auftreten. - c) Stochastische Ansätze: Die Bedeutung zufallsbedingter Einflüsse für den Konjunkturverlauf wird in praktisch allen Konjunkturtheorie erkannt, ohne daß sie in jedem Einzelfall explizit berücksichtigt werden. Es gibt jedoch Erklärungsansätze, die gerade diese Zufallseinflüsse in das Zentrum der Konjunkturerklärung rücken. Slutzky (1937) zeigte bereits, daß Konjunkturschwankungen sich in ihrer zeitlichen Struktur genauso verhielten wie stochastische Zeitreihen, ohne daß damit jedoch eine Erklärung der Konjunkturschwankungen geliefert wurde. Krelle (1959) entwickelte ein Konjunkturmodell, in dem Entstehung, Frequenz und Amplitude der Konjunkturschwankungen rein stochastisch bedingt sind. - 2. Optimierungsansätze: In diesen Modellen werden Konjunkturschwankungen aus dem Optimierungsverhalten von Entscheidungsträgern hergeleitet. Im Vordergrund stehen hierbei Modelle der Neuen Politischen Ökonomie (Nordhaus (1975), B.S. Frey (1978), Alesina/Roubini (1992)). Die Regierung eines demokratischen Staates maximiert z. B. die Anzahl der Wählerstimmen bei einer Wahl mit geeigneten wirtschaftspolitischen Maßnahmen unter Berücksichtigung ökonomischer Nebenbedingungen, z. B. der Phillips-Kurve. Die Lösung dieses Optimierungsansatzes führt zu einem zyklischen Verlauf von Rate der Inflation und Arbeitslosenquote, so daß diese (Konjunktur-) Schwankungen letztlich durch das politische System bedingt sind. In neuester Zeit wurde gezeigt, wie das Optimierungsverhalten im Rahmen einer staatlichen Wirtschaftspolitik Konjunkturausschläge verstärken kann. - 3. Real-Business-Cycle-Modelle (RBC-Modelle): Von den Konjunkturtheorie der Neuen Klassischen Makroökonomik sind die RBC-Modelle von besonderer Bedeutung. Stochastische Schocks wirken über die Produktionsfunktion auf das gesamtwirtschaftliche Angebot ein, so daß zusammen mit Verstärkereffekten Schwankungen der gesamtwirtschaftlichen Produktion auftreten können, die als Konjunkturschwankungen interpretierbar sind. Die Verstärkereffekte können z. B. über die Zeitdauer der Investitionsgüterproduktion (Kydland/Prescott (1982)) oder über substituierendes Verhalten bzgl. Arbeitszeit und Freizeit (Long/Plosser (1983)) eingeführt werden. Die empirische Relevanz der RBC-Modelle ist allerdings umstritten. - 4. Ökonometrische Konjunkturmodelle: Für die vergangene konjunkturelle Entwicklung einer Wirtschaft wird auf der Basis theoretischer Überlegungen ein dynamisches ökonometrisches Modell statistisch geschätzt (Ökonometrie). Ist die Schätzung hinreichend gut, kann dieses ökonometrische Konjunkturmodell zur Konjunkturprognose herangezogen werden.


Literatur: Alesina, A./Roubini, N., Political Cycles in OECD Economies, in: Review of Economic Studies 59 (1992), S. 663-688; Bombach, G. u. a. (Hrsg.), Perspektiven der Konjunkturforschung, Tübingen 1984; Frey, B. S., Politico-Economic Models and Cycles, in: Journal of Public Economics 9 (1978), S. 203-220; Gabisch, G./Lorenz, H.-W., Business Cycle Theory, 2. Aufl., Berlin, Heidelberg, New York 1989; Goodwin, R. M., The Non-linear Accelerator and the Persistence of Business Cycles, in: Econometrica 19 (1951), S. 1-17; Haberler, G., Prosperität und Depression, 2. Aufl., Tübingen 1955; Hicks, J. R., A Contribution to the Theory of the Trade Cycle, 2. Aufl., Oxford 1965; Kaldor, N., A Model of the Trade Cycle, in: Economic Journal 50 (1940), S. 78-92; Krelle, W., Grundlagen einer stochastischen Konjunkturtheorie, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 115 (1959), S. 472-494; Kromphardt, J., Wachstum und Konjunktur, 3. Aufl., Göttingen 1993; Kydland, F. E./Prescott, E. C., Time to Build and Aggregate Fluctuations, in: Econometrica 50 (1982), S. 1345-1370; Long, J. B./Plosser, Ch.I., Real Business Cycles, in: Journal of Political Economy 91 (1983), S. 39-69; Lucas, R. E., An Equilibrium Model of the Business Cycle (1975), in: Lucas, R. E., Studies in Business Cycle Theory (1981), S. 179-214; Nordhaus, W. D., The Political Business Cycle, in: Review of Economic Studies 42 (1975), S. 169-190; Samuelson, P. A., Interactions Between the Multiplier Analysis and the Principle of Acceleration, in: Review of Economic Statistics 21 (1939), S. 75-78; Slutzky, E., The Summation of Random Causes as the Source of Cyclic Processes, in: Econometrica 5 (1937), S. 105-146; Tichy, G., Konjunktur, 2. Aufl., Berlin, Heidelberg 1994; Vosgerau, H.-J., Konjunkturtheorie, in: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaften, Bd. 4 (1978), S. 478-507.

 

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