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Konstitutionenökonomik

I. Gegenstand: Im Vordergrund der Konstitutionenökonomik steht die Analyse der Wahl von Regeln ("choice of rules") im Gegensatz zur Analyse von Wahlhandlungen bei gegebenen Regeln ("choice within rules"). Eine Verfassung wird dabei als ein System von Regeln beschrieben, welches die Handlungen von Personen beschränkt, die handeln, um ihre eigenen Ziele zu verfolgen (Buchanan 1977, 292). In der neoklassischen Theorie wird die Funktionsfähigkeit von Institutionen - darunter auch Verfassungen - häufig implizit unterstellt. Konstitutionenökonomen geben diese Annahme auf: Es werden nicht mehr nur Wahlhandlungen innerhalb eines gegebenen Regelrahmens analysiert, sondern die Wahl des Regelrahmens selbst wird als einer ökonomischen Analyse zugänglich unterstellt. Es kann dann gefragt werden, welche (Verfassungs-)Regeln rationale Individuen wählen, um die Produktion von Kollektivgütern zu regeln. Damit werden Art und Weise der Regelwahl in einer Gesellschaft einerseits und die Analyse ihrer Funktionsfähigkeit andererseits zum Erkenntnisgegenstand (Buchanan 1991, 4). Bisher wurde ein positiv angelegtes Forschungsprogramm beschrieben (eine Übersicht über den derzeitigen Forschungsstand findet sich in Voigt, 1996a). Konstitutionenökonomik hat aber auch einen normativen Anspruch. Hier wird gefragt, wie Gesellschaften vorgehen sollten, um Verfassungsregeln zu generieren (prozeduraler Aspekt) bzw. wie die Regeln selbst beschaffen sein sollten (substantieller Aspekt)
II. Verhaltensmodell: In der Ökonomik ist der methodologische Individualismus weitgehend unumstritten. Gemäß dieser Annahme handeln ausschließlich Individuen und nicht organische Gebilde wie "Staaten" oder ganze "Gesellschaften". Demzufolge müßten prinzipiell alle Explananda sowohl auf der Verfassungsebene als auch auf den darunterliegenden Ebenen mit individuellen Handlungen zu erklären sein. Teil des Explanans muß also immer ein Akteur bzw. eine Gruppe von Akteuren sein, die durch ihr Handeln das Explanandum herbeiführen. Dabei spielt es zunächst keine Rolle, ob das Explanandum Ergebnis menschlichen Planens ist oder nicht. In der Ökonomik wird individuelles Verhalten in der Regel modelliert als das Ergebnis des Versuchs, eine Nutzenfunktion unter Nebenbedingungen zu maximieren. Das in der Ökonomik am häufigsten genutzte Verhaltensmodell ist das des homo oeconomicus. Repräsentanten der Konstitutionenökonomik argumentieren häufig, daß der homo oeconomicus nicht nur zur Analyse von Verhalten auf Märkten geeignet ist, sondern auch zur Analyse von Verhalten in nicht-marktlichen Kontexten. Sie begründen dieses Vorgehen mit dem Argument, daß es wenig sinnvoll wäre, die Akteure in bestimmten Kontexten als (egoistische) Nutzen-Maximierer und in anderen Kontexten als Förderer eines irgendwie ermittelten Gemeinwohls zu modellieren. Weil es ja ein und derselbe Mensch ist, der handelt, sei es auch sinnvoll, sein Handeln durch ein einziges Verhaltensmodell zu beschreiben (Brennan und Buchanan 1985). Brennan und Buchanan sind dabei gar nicht an einer korrekten Beschreibung menschlichen Verhaltens interessiert. In einer Gesellschaft mit einer Vielzahl von Mitgliedern könnte man ja davon ausgehen, daß es einige Menschen gibt, die tatsächlich ihren Vorteil auch auf Kosten anderer anstreben, aber ebenso Altruisten, die primär am Wohlergehen anderer interessiert sind. Prima vista erscheint somit ein "Durchschnitts-Verhaltensmodell" geboten. Brennan und Buchanan sprechen sich explizit dagegen aus, weil sie behaupten, daß in einem solchen Modell der von den Altruisten produzierte Nutzen systematisch überschätzt und der von den Egoisten produzierte Schaden systematisch unterschätzt werde.
III. Analyseinstrumentarium: Als Standardanalyseinstrument der Konstitutionenökonomik hat sich die komparative Institutionenanalyse herausgebildet, in der gefragt wird, wie sich alternative institutionelle Arrangements auf ökonomische Variable auswirken. In der komparativen Institutionenanalyse werden nur tatsächlich existierende Institutionen miteinander verglichen, was den Vorteil hat, daß man nicht dem Nirvana-Trugschluß (Demsetz 1969) unterliegt. Die komparative Institutionenanalyse hat jedoch zwei Nachteile, die durch die zusätzliche Nutzung zweier weiterer Analyseinstrumente kompensiert werden können: Die geringe Zahl von realisierten und vergleichbaren institutionellen Arrangements läßt die Hinzuziehung wirtschaftsgeschichtlicher Methoden, insbes. der Ökonomischen Theorie der Geschichte (New Economic History), nützlich erscheinen, um konstitutionellen Wandel über die Zeit erklären zu können. Institutionelle Arrangements, die bisher in keiner Gesellschaft realisiert sind, können mithilfe der komparativen Institutionenanalyse nicht sauber verglichen werden. Um institutionelle Reformvorschläge auf ihre möglichen Wirkungen hin zu testen, erscheint es somit sinnvoll, Laborexperimente hinzuziehen (zum Analyseinstrumentarium der positiven Konstitutionenökonomik, Voigt, 1996b).
IV. Verfassungskonzepte: 1. Grundgedanken kontraktorientierter Konstitutionenökonomik: a) Darstellung: Als Begründer dieser Forschungsrichtung können James M. Buchanan und Gordon Tullock genannt werden. Sie modellieren ihre Akteure als rationale Individuen, die ein umfassendes theoretisches Wissen über die Wirkungsweise alternativer institutioneller Arrangements haben, jedoch unwissend in bezug auf ihre zukünftige sozio-ökonomische Position sind (sogenannter Schleier der Unwissenheit, Buchanan und Tullock 1962, 78). In einem von Buchanan allein verfaßten Werk (1975) ist der Ausgangspunkt der Analyse ein Zustand der Anarchie, so wie er auch von Hobbes beschrieben wurde. Er zeichnet sich durch die Abwesenheit allgemein akzeptierter Handlungs- und Eigentumsrechte aus, so daß Ressourcen für das Schützen bzw. Stehlen von Gütern aufgewendet werden. Schließlich wird ein "Gleichgewicht der Anarchie" erreicht, in dem die Grenzerträge für das Produzieren, Stehlen und Schützen von Gütern sich gerade ausgleichen. Die Individuen erkennen jedoch, daß sie sich ausnahmslos besser stellen könnten, wenn sie sich auf einen Abrüstungvertrag einigen könnten, der es ihnen erlauben würde, ihre Aufwendungen für das Stehlen und Schützen der Güter zu reduzieren. Da es sich hier jedoch um ein Gefangenendilemma handelt, haben alle Individuen einen Anreiz, den Vertrag zu unterzeichnen, ihn aber nicht einzuhalten. Dies ist der Grund, warum die Individuen qua Vertrag einen Rechtsschutzstaat schaffen, der die Aufgabe hat, die Privatsphären der Individuen vor Übergriffen zu schützen. Zusätzlich schaffen sie - ebenfalls qua Vertrag - einen Leistungsstaat, den sie mit der Bereitstellung von Kollektivgütern betrauen, deren Produktion durch Private sich nicht lohnen würde. Buchanans Vorgehen abstrahiert bewußt vom tatsächlichen historischen Geschehen. Der Gedanke, daß Individuen qua Vertrag den Staat begründen, ist eine Heuristik, eine als-ob-Vorstellung, mit deren Hilfe Buchanan nicht nur die Existenz bestehender Institutionen erklären will, sondern auch Kriterien zur Beurteilung existierender Institutionen zu deduzieren hofft (1975, 50ff.). Die Einstimmigkeit ist das Kriterium, mit dessen Hilfe Buchanan sicherstellen kann, daß ein Verfassungsvorschlag nur dann angenommen wird, wenn sich kein Individuum schlechter stellt als beim derzeitigen status quo; es ist somit die Nutzung des Pareto-Kriteriums für kollektive Wahlhandlungen. - b) Kritik: Vertragstheorien der Verfassung sind einer Vielzahl von Kritikpunkten ausgesetzt. Hier seien nur zwei genannt (für weitere, vgl. Voigt, 1994): Erstens ist unklar, wie die anzustrebende Einstimmigkeit zu verstehen ist. Handelt es sich nur um eine hypothetisch anzustrebende oder eine tatsächlich zu erreichende Einstimmigkeit? Genügt ein hypothetischer Konsens, so könnte die Willkür des jeweils beurteilenden Wissenschaftlers (oder auch: Politikers) eine gewichtige Rolle spielen. Ist dagegen faktische Einstimmigkeit gemeint, so darf bezweifelt werden, ob sich eine Gesellschaft jemals auf eine Verfassung bzw. eine Verfassungsänderung wird einigen können. Verfassungen wären damit inhärent konservativ. Zweitens können Vertreter der Vertragstheorie der Verfassung das Problem des infiniten Regresses nicht lösen: Oben wurde gezeigt, daß es rational sein kann, einen Vertrag abzuschließen, sich aber anschließend nicht daran zu halten. Wenn eine Gesellschaft aber qua Vertrag einen Staat kreiert, dann unterliegen die Vertreter des Staates und der Gesellschaft selbst wiederum einem Gefangenendilemma. Es könnte sich für die Staatsrepräsentanten lohnen, sich nicht an die im Vertrag festgelegten Modalitäten zu halten. Dieses Problem selbst kann jedoch nicht doch die nochmalige Einigung auf einen weiteren Vertrag höherer Ebene gelöst werden. Trotz dieser Kritikpunkte dürfte heute die Mehrheit der Konstitutionenökonomen Anhänger von Vertragstheorien sein. - 2. Der Verfassungsvertrag als Prinzipal-Agent-Beziehung: a) Darstellung: Die Prinzipal-Agent-Theorie ist aus der Beobachtung entstanden, daß Information zwischen Vertragspartnern asymmetrisch verteilt ist. Ein Prinzipal betraut einen Agenten mit der Durchführung bestimmter Aufgaben. Dabei entsteht das Problem, daß er das Handeln des Agenten nicht vollständig (bzw. kostenlos) beobachten kann bzw. daß der Agent in so komplexen Situationen handelt, die eine eindeutige Bewertung seiner Handlungen in bezug auf das jeweilige Ziel ausschließen. Der Agent verfügt somit über einen Handlungsspielraum, den er zur Maximierung seiner eigenen Nutzenfunktion - und nicht der des Prinzipals - nutzen kann. Das Hauptinteresse der Prinzipal-Agent-Theorie gilt somit der optimalen Vertragsgestaltung unter der Annahme asymmetrischer Information (Informationsasymmetrie). Es liegt nahe, sich die Gesellschaftsmitglieder als Prinzipale und die Regierung als deren Agenten vorzustellen. Das Problem besteht dann darin, einen Vertrag - die Verfassung - so zu gestalten, daß die Agenten Anreize haben, den Erwartungswert der Prinzipale zu maximieren. Diese Konzeptualisierung eines Gesellschaftsvertrags beruht somit weiterhin auf der Annahme rationaler, nutzenmaximierender Individuen. Modifiziert wurde lediglich die Annahme über die den Prinzipalen verfügbare Information. Der Prinzipal-Agent-Ansatz innerhalb der Kontrakttheorie ist normativ ausgerichtet. - b) Kritik: An der Vertragstheorie der Verfassung wurde bereits oben bemängelt, daß sie aufgrund ihrer Annahmen in einen infiniten Regreß gerät. Anderson und Hill (1986) gestehen dies in ihrer Konzeptualisierung der Verfassung als Prinzipal-Agent-Vertrag ein, in dem sie auf ideologische Beschränkungen hinweisen, die bei den Agenten zusätzlich zum Gesellschaftsvertrag vorhanden sein müßten, damit die "Umverteilungsgesellschaft" beschränkt werden kann. - 3. Der Verfassungsvertrag als Instrument der Selbstbindung: a) Darstellung: Selbstbindung kann als ein Instrument bezeichnet werden, mit dem Individuen versuchen, sich gegen kurzfristige Willensschwächen zu schützen. Während der Prinzipal-Agent-Ansatz eine Modifikation der ursprünglichen Annahmen in bezug auf die bei den beteiligten Akteuren verfügbare Information vornimmt, wird beim Selbstbindungs-Ansatz die Annahme der vollständigen Rationalität der Akteure modifiziert, weil Rationalität ja nicht nur eine vollständige Präferenzordnung zu einem Zeitpunkt voraussetzt, sondern auch deren Konsistenz über die Zeit. Die Frage ist jetzt, ob Individuen über Instrumente verfügen, rational mit ihrer Irrationalität umzugehen. Wenn die Möglichkeit nicht auszuschließen ist, daß nicht nur Individuen, sondern auch ganze Gesellschaften zeitinkonsistente Präferenzen haben können, dann liegt es nahe zu fragen, ob sich Gesellschaften durch Selbstbindungsmechanismen vor ihrer eigenen - kollektiven - Willensschwäche schützen können. Als Beispiel für einen Selbstbindungsmechanismus in modernen Verfassungen wird häufig eine von der Regierung unabhängige Zentralbank als Instrument zum Schutz der Regierenden vor sich selbst genannt. Dies ist eine Vorkehrung gegen Willensschwäche von Politikern, es sind jedoch auch Selbstbindungen aller Gesellschaftsmitglieder denkbar: so könnte argumentiert werden, daß der Verzicht auf Referenden eine Vorsichtsmaßnahme des Volkes vor sich selbst und vor populistischen Führern ist. Tocqueville hat die amerikanischen Wahlmännergremien als ein solches Instrument interpretiert (1835/ 1985, 118). - b) Kritik: Eine Gesellschaft muß nicht nur ihre Schwächen kennen, sondern auch entsprechende Möglichkeiten, sich selbst zu binden. Zu diesen eher kognitiven Voraussetzungen treten noch motivationale: Die Gesellschaftsmitglieder - ihre Politiker eingeschlossen - müssen willens sein, sich bestimmten Selbstbindungsmechanismen zu unterwerfen. Zudem kann auch nach der (moralischen) Rechtfertigung der Selbst-Bindung gefragt werden. Eine Gesellschaft heute ist zweifellos eine andere als eine Gesellschaft morgen. Ihre Zusammensetzung kann sich geändert haben, aber auch die Präferenzen der einzelnen Mitglieder. Warum also sollte eine Gesellschaft heute die Möglichkeit haben, eine Gesellschaft morgen zu binden? - 4. Grundgedanken der evolutionsorientierten Verfassungstheorie: a) Darstellung: Ähnlich wie bei der Schilderung der Grundgedanken vertragstheoretischer Konzepte orientiert sich die Darstellung an einem Hauptvertreter, in diesem Fall Hayek. Während Buchanan davon ausgeht, daß die Individuen von je her mit Rationalität ausgestattet sind, die sie dazu führt, die individuelle Vorteilhaftigkeit von für eine gesamte Gesellschaft gültigen Regeln zu erkennen und sie deshalb bewußt zu implementieren, argumentiert Hayek genau umgekehrt: Der Mensch wurde erst dadurch rational, daß er Regeln folgte. Die Entstehung von Regeln ist bei ihm somit nicht Konsequenz eines bewußten Setzungsprozesses, sondern (unintendiertes) Ergebnis menschlichen Handelns, aber nicht menschlichen Entwurfs. Anders als Buchanan geht Hayek auch nicht davon aus, daß seine Akteure über ein umfassendes theoretisches Wissen über die Wirkungsweise von Regeln verfügen. Er betont dagegen immer wieder, daß Akteure über subjektives Wissen verfügen, das nur teilweise kommunizierbar und deshalb nicht aggregierbar sei. Obwohl auch Hayek Anhänger des methodologischen Individualismus ist, handeln seine Akteure viel stärker als Teil von Gruppen. Den Krieg aller gegen alle als Ausgangspunkt der Analyse zu wählen, hält er für sinnlos, da das bloße Überleben schlechterdings nur in der Gruppe denkbar sei. Auch die heute zu beobachtenden Entwicklungen des Wohlfahrtsstaates seien letztlich Ausfluß kollektivistischer Instinkte (Hayek 1973, 1976, 1979, 1988). Im Hayekschen Konzept entstehen Institutionen - und somit auch Konstitutionen - als Ergebnis eines Versuch-und-Irrtum-Prozesses. Anders als Buchanan ist er somit nicht an als ob-Modellen der Entstehung interessiert, sondern an einer historisch zutreffenden Beschreibung. Verfassungen sind in seiner Theorie ein Kürzel für "beschränkte Regierung" und letztlich für das Konzept der Rechtsstaatlichkeit, der "rule of law". Es ist Aufgabe des Staates, für eine allgemeine Einhaltung der "allgemeinen Regeln des gerechten Verhaltens" zu sorgen. Während die Effizienz von Verfassungen bei Buchanan ermittelbar ist, indem man testet, ob Einstimmigkeit für einen Verfassungsreformvorschlag erzielbar ist, verfügt Hayek nicht über ein explizit ausgearbeitetes Effizienz-Konzept. Gleichwohl kann man von der relativen Fähigkeit bestimmter Gruppen, sich gegenüber anderen auszubreiten, auf die Adäquatheit des sie lenkenden Regelsystems rückschließen. - b) Kritik: Aus einer Vielzahl kritischer Einwände gegen die Hayeksche Theorie seien auch hier nur zwei herausgegriffen: Die analysierte Einheit seines Evolutionskonzepts ist nicht ein Gen oder ein Individuum, sondern eine ganze Gruppe. Hier bleibt eine Vielzahl von Fragen offen. Zweitens scheint die Hayeksche Theorie unter einem immanenten Widerspruch zu leiden: Er ist nämlich einerseits der Auffassung, daß der Evolutionsprozeß dafür sorgen wird, daß die jeweils vorteilhafteren Regeln bzw. Institutionen vom Evolutionsprozeß positiv selektiert werden, eine Auffassung, die man plakativ als "Evolutionsoptimismus" bezeichnen könnte. Gleichzeitig bedauert er den immer wieder - und offenbar systematisch - zu beobachtenden Untergang von "rule of law"-Regimen (ausführlicher in Voigt 1991). - 5. Die Verfassung als Konventionenbündel: a) Darstellung: In den letzten Jahren ist die kontraktorientierte Theorie der Verfassung zunehmend kritisiert worden. Einige Wissenschaftler argumentieren, daß die Verfassung keineswegs als Vertrag konzeptualisiert werden könne, sondern vielmehr vergleichbar sei mit sozialen Normen, die ungeplant entstehen und von den meisten Gesellschaftsmitgliedern in allgemeiner und unbewußter Art akzeptiert werden (z. B. Ordeshook 1992). Konventionen entstehen spontan. Sind sie jedoch einmal etabliert, kann es für ein Individuum sehr kostspielig - oder sogar unmöglich - sein, sie zu ändern, selbst wenn eine spezifische Konvention für ein bestimmtes Individuum extrem unvorteilhaft ist. Dies gilt selbst dann, wenn eine andere Konvention denkbar ist, die pareto-superior wäre. Konventionen sind somit nicht notwendig pareto-optimal. Die Vertreter des Konventionskonzepts der Verfassung argumentieren, daß konstitutionelle Übereinkünfte ein Versuch seien, den Prozeß der Konventionenentstehung zu beschleunigen und in eine bestimmte Richtung zu lenken (Hardin, 1989). - b) Kritik: Gegen dieses Konzept kann eingewandt werden, daß die Aussagen über das Steuerungspotential von (Verfassungs-)Politik unklar bleiben, ein Vorwurf, der im übrigen auch der evolutionsorientierten Theorie Hayekscher Prägung gemacht werden kann. Bei Hardin sind Konventionen einerseits das ungeplante Ergebnis menschlichen Handelns, andererseits sind konstitutionelle Übereinkünfte der Versuch, den Prozeß der Konventionenentstehung zu beschleunigen und in eine bestimmte Richtung zu lenken. Es kann gefragt werden, wie konstitutioneller Wandel innerhalb des Konventionenkonzepts der Verfassung erklärt werden kann: Welche Faktoren führen dazu, daß die Selbstdurchsetzung bestimmter Regeln nicht mehr gegeben ist? Welche Faktoren lassen es lohnend erscheinen, Ressourcen aufzuwenden, um eine Verfassungsänderung zu erwirken? Diese Kritikpunkte sind in Frageform formuliert. Damit soll berücksichtigt werden, daß das Konventionskonzept von Verfassungen noch jung ist und daß eine weitere Ausarbeitung möglicherweise zu befriedigenden Antworten gelangen könnte.
V. Angrenzende Forschungsprogramme: Von Buchanan (1987, 586) werden sechs aktuelle Forschungsrichtungen genannt, die eng mit der Konstitutionenökonomik verwandt sind: (1) die ökonomische Theorie der Politik (Public Choice), (2) die Theorie der Eigentumsrechte, (3) die ökonomische Theorie des Rechts, (4) die politische Ökonomie der Regulierung, (5) die Neue Institutionenökonomik und (6) die ökonomische Theorie der Geschichte (New Economic History). Die ökonomische Theorie der Politik ist primär an der Prognose von Politikerverhalten innerhalb eines gegebenen Regelsystems interessiert, während die Konstitutionenökonomik ja gerade die Änderungsmöglichkeiten als zentralen Fokus hat. Buchanan weist darauf hin, daß die Theorie der Eigentumsrechte, die ökonomische Theorie des Rechts und die politische Ökonomie der Regulierung sehr viel stärker als die Konstitutionenökonomik innerhalb des orthodoxen Analyserahmens der Neoklassik verbleiben (ibid). Das wird zum Beispiel an der Nutzung der Pareto-Optimalität als orthodoxem Effizienzkriterium der Neoklassik deutlich. In bezug auf die Neue Institutionenökonomik könnte man argumentieren, daß diese einen breiteren Erkenntsnisgegenstand hat als die Konstitutionenökonomik. Werden Institutionen als sanktionsbewährte Regeln definiert, dann sind Verfassungsregeln Institutionen. Das Erkenntnisobjekt der Neuen Institutionenökonomik ist jedoch breiter, weil auch Institutionen der post-konstitutionellen Ebene wie z. B. ordentliche Gesetze analysiert werden, aber auch Institutionen, deren Durchsetzung nicht durch den Staat, sondern durch Private erfolgt, wie zum Beispiel Sitten oder Konventionen.
VI. Ausblick: Konstitutionenökonomik beruht - wie die benachbarten Forschungsprogramme, die sich unter dem Dach der Neuen Institutionenökonomik zusammenfassen lassen - auf der Annahme, daß Institutionen für die Koordination individuellen Verhaltens relevant sind. Daß die kanalisierende Wirkung von Institutionen bisher noch nicht präzise beschrieben werden kann und daß das gesicherte Wissen über Entstehung und Wandel von Institutionen bisher noch gering ist, dürfte an der Entwicklung der Ökonomik als Wissenschaft liegen, die jahrzehntelang weitgehend institutionenfrei betrieben wurde. Insofern sollte der unbefriedigende Wissensstand eher Anlaß für größere Forschungsanstrengungen in der Zukunft sein als für eine Kritik.
Literatur: Anderson, T./Hill, P., Constraining the Transfer Society: Constitutional and Moral Dimensions, Cato Journal, 6. Jg. (1986), S. 317-339; Brennan, G./Buchanan, J., The Reason of Rules, Cambridge 1985; Buchanan, J. The Limits of Liberty, Chicago 1975; Buchanan, J., Freedom in Contitutional Contract, College Station 1977; Buchanan, J., Constitutional Economics, Stichwort im New Palgrave, London/Basingstoke: Macmillan, Bd. 1, 1987, S. 588-595; Buchanan, J., The Domain of Constitutional Political Economy" in: Buchanan, J: The Economics and the Ethics of Constitutional Order, Ann Arbor 1991, S. 3-18; Buchanan, J./Tullock G., The Calculus of Consent, Ann Arbor 1962; Demsetz, H., Information and Efficiency: Another Viewpoint, Journal of Law and Economics, 12. Jg. (1969), S.1-22; Hardin, R., Why a Constitution? in: Grofman, B. and D. Wittman (eds.); The Federalist Papers and the New Institutionalism, New York 1989, S. 100-120; Hayek, F. , Law, Legislation and Liberty, Vol. 1 ( Rules and Order, Chicago 1973), Vol. 2 (The Mirage of Social Justice, Chicago 1976), Vol. 3 (The Political Order of a Free People, Chicago 1979); Hayek, F.,The Fatal Conceit, London1988; Ordeshook, P. (1992); Constitutional Stability, Constitutional Political Economy, 3(2): 137-175; Tocqueville, A., Über die Demokratie in Amerika, Stuttgart: 1835/1985; Voigt, S., Die evolutionsorientierte Theorie der Verfassung - Bemerkungen zum Ansatz von Hayeks, Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 40. Jg. (1991), S.93-107; Voigt, S., Die kontraktorientierte Theorie der Verfassung - Bemerkungen zum Ansatz Buchanans, Homo oeconomicus, 11. Jg. (1994), S. 173-209; Voigt, S., Positive Constitutional Economics - A Survey, erscheint in: Public Choice, September 1996; Voigt, S., Pure Eclecticism - The Tool Kit of the Constitutional Economist, erscheint in: Constitutional Political Economy, 7. Jg. (1996b).

 

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