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Transformation von Wirtschaftsordnungen

1. Systemwandel und -transformation: Die Transformation von Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen, wie sie in Mittel- und Osteuropa seit einigen Jahren angestrebt bzw. vollzogen wird, kann interpretiert werden als ein Grenzfall des langfristigen Wandels von Wirtschaftssystemen. Während der langfristige Wandel sich in der Regel graduell vollzieht, wird mit der Transformation von Wirtschaftsordnungen v. W. ein radikaler Systemwechsel intendiert, mit dem ein gesellschaftliches Regelsystem (Ordnungsökonomik) gegen ein anderes praktisch vollständig ausgetauscht werden soll. - 2. Ordnungsökonomische Wissensdefizite: Bereits die Möglichkeit einer allgemeinen Theorie der Transformation darf bezweifelt werden. Nach dem vorherrschenden Wissenschaftsverständnis müßte eine allgemeine Theorie der Transformation nomologische Hypothesen vom Typ "immer und überall wenn, dann" enthalten. Jeder Transformationsfall ist jedoch ein singulärer Prozeß, dessen Ablauf von einer Vielzahl individueller Faktoren getrieben wird. Singulär ist nicht nur die spezifische Ausgangssituation der jeweiligen Gesellschaft, die sich aus ihrer Geschichte ergibt, sondern auch die gegenwärtige Verteilung der Ressourcen, die Organisiertheit von Interessengruppen, die Fähigkeit von politischen Akteuren, Politikfelder gem. ihren eigenen Vorstellungen zu besetzen, etc. Generalisierbare Verlaufsmuster sind (noch) nicht zu erkennen. Die Forderung nach einer Theorie der Transformation scheint allerdings häufig nicht auf eine positive Theorie gerichtet zu sein, sondern eher auf eine Anleitung für politisches Handeln, mit deren Hilfe der Transformationsprozeß möglichst erfolgreich gemeistert werden kann. - 3. Transformationspolitische Strategien: Hierbei ist es zweckmäßig, zwischen theoretisch wünschenswerten, aber praktisch nicht vollziehbaren Politikoptionen und pragmatischen Optionen zu unterscheiden. So wurde zu Beginn der Transformationsdiskussion häufig der Gegensatz zwischen einem holistischen Ansatz, genannt "Big Bang", und einem schrittweisen Vorgehen, genannt "Sequencing", thematisiert. Der holistische Ansatz, bei dem alle institutionellen Funktionsbedingungen eines marktwirtschaftlich orientierten ökonomischen Systems (Ordnungsökonomik V) und eines demokratisch strukturierten politischen Systems möglichst gleichzeitig realisiert werden sollen, trägt der institutionellen Interdependenz innerhalb der genannten Teilordnungen (Interdependenz der Ordnungen) und zwischen ihnen grundsätzlich Rechnung. Jedoch wird bei diesem Ansatz nicht zuletzt der unterschiedliche Zeitbedarf vernachlässigt, der für die Realisierung der einzelnen institutionellen Teilergebnisse sowie die Anpassung an das neue Regelsystem benötigt wird. Beispiele hierfür sind der Unterschied im Zeitbedarf zwischen einer Währungsreform einerseits und der Privatisierung andererseits. Hinzu kommt der politische Willensbildungsprozeß, den die einzelnen institutionellen Elemente des Systemwechsels durchlaufen müssen. Der Prozeß selbst ist von einer Restrukturierung der politischen Herrschaftsverhältnisse mit ihren retardierenden und progressiven Elementen überlagert. Diese Vorgänge divergieren wiederum zwischen den Transformationsländern. - 4. Staatliche Aufgaben: Transformation ist insofern ein Sonderfall, als es sich ökonomisch (und politisch) um einen radikalen Wechsel der Ordnungsart handelt. Es geht um die Realisierung einer "ordnungspolitischen Grundentscheidung" im Sinne Euckens zugunsten eines grundsätzlich marktmäßig koordinierten Wirtschaftssystems. Euckens konstituierende Prinzipien (Freiburger Schule 3 c) für eine Wettbewerbsordnung können als eine Art Blaupause für die staatlichen Aufgaben im ökonomischen Transformationsprozeß gelesen werden. Die Umsetzung der Prinzipien (Primat der Währungspolitik, offene Märkte, Privateigentum, Vertragsfreiheit, Haftung und Konstanz der Wirtschaftspolitik) setzt jedoch die Existenz eines "starken" Staates (Eucken, 1952, S. 325 ff.) voraus. Seine politischen Repräsentanten und die Verwaltung müssen auch willens und in der Lage sein, die Prinzipien institutionell und administrativ zu realisieren. - 5. Polit-ökonomische Hindernisse: Nach den Erkenntnissen der ökonomischen Theorie der Politik und der Bürokratie können gegenüber der Realisierbarkeit eines "starken" Staates (Freiburger Schule 3 d.) im Sinne Euckens berechtigte Zweifel angemeldet werden. Die gleichzeitige Einführung einer demokratischen politischen Ordnung und einer durch Privatautonomie geprägten marktwirtschaftlichen Ordnung gilt als schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Die Begründung zielt auf die mit der ökonomischen Transformation verbundene Umverteilung von sozio-ökonomischen Positionen und Verfügungsrechten über Ressourcen. Die Privatisierung stellt verschiedene Gruppen der betrachteten Gesellschaft schlechter mit der erwartbaren Folge, daß sie bei den nächsten Wahlen Anlaß haben werden, Parteien ihre Stimme zu geben, die eine kritische Haltung gegenüber vorherrschendem Privateigentum einnehmen. Hinzu kommen die Härten des Strukturwandels, der aufgrund der vorangegangenen sozialistischen Mißwirtschaft erwartet werden muß und der politisch zur Verzögerung des Transformationsprozesses genutzt werden kann. Die Formierung neuer und die Behauptungsversuche alter Interessengruppen lassen den Transformationsprozeß zu einem permanenten Verhandlungsprozeß werden mit höchst ungewissen Teilergebnissen. - 6. Institutionelle Konsistenzprobleme: Hayek wies - wenn auch nicht mit dem Blick auf das Transformationsproblem - immer wieder auf eine weitere Voraussetzung hin, die erfüllt sein muß, damit ordnungskonforme Regeln nicht nur staatlich proklamiert, sondern auch tatsächlich durchgesetzt werden können: Die Regeln müssen die moralischen Überzeugungen einer überwiegenden Zahl der Gesellschaftsmitglieder reflektieren (näheres: Konstitutionenökonomik). a) Gesellschaftliche Werthaltungen: Inwieweit in einem Transformationsland Überzeugungen ausgeprägt sind, die Privateigentum, Vertragsfreiheit und Haftung begünstigen, ist eine empirische Frage. Das gilt auch für positive Einstellungen etwa zu individueller Verantwortung, Risiko und Wettbewerb sowie für die Toleranz gegenüber Einkommensunterschieden. Wo die Überzeugungen und Einstellungen weitgehend fehlen, welche die Herausbildung eines Privatrechtssystems begünstigen, dürften Transformationsversuche kaum erfolgreich sein. Das bedeutet auch, daß der Vorschlag, bei der Transformation zumindest in einem ersten Schritt das Privatrecht eines anderen Staates zu übernehmen, mit Skepsis zu beurteilen ist, wenn es an Überzeugungen und Einstellungen fehlt, die die Herausbildung des übernommenen Privatrechtssystem begünstigt haben (z. B. Mummert, 1995, Kap. 2, 4). - b) Interne Institutionen: Neben Überzeugungen und Einstellungen ist zu berücksichtigen, daß die externen Institutionen eines sozialistischen Gesellschafts- und Wirtschaftssystems die Entwicklung spezifischer interner Institutionen und damit verbundener Verhaltensweisen bewirkt haben. Ein radikaler Wechsel der externen Institutionen als Folge der Transformation kann zu Konflikten mit internen Institutionen führen, die erst in einem spontanen Anpassungsprozeß überwunden werden. Angesprochen ist damit das ordnungsökonomische Erfordernis der Konsistenz von externen und internen Institutionen (vgl. Kiwit/Voigt, 1995). Das Konsistenzproblem kann sich jedoch auch in umgekehrter Weise stellen. Ein Teil der internen Institutionen, die sich in den zusammengebrochenen sozialistischen Systemen entwickelt hatten, war die Reaktion auf die systembedingten, schwerwiegenden Koordinationsdefizite. Es entstand eine spezifische Form der Schattenwirtschaft, die auch rudimentäre Marktelemente enthielt. Dies könnte eine Transformation "von unten" her unterstützen oder auch hervorrufen. - c) Spontane Regelbildung: Ein noch grundsätzlicheres Problem ergibt sich für den Transformationsprozeß, wenn berücksichtigt wird, daß nicht nur die Marktergebnisse eine spontane Ordnung sein können, sondern auch das gesamte ihnen zugrunde liegende System von externen und internen Institutionen. Wenn davon ausgegangen werden müßte, daß die ordnungskonformen Regeln selbst Ergebnisse eines spontanen Entwicklungsprozesses sind, wäre die Konsequenz wenig ermutigend: Die Gesellschaften in Mittel- und Osteuropa wären sich selbst zu überlassen, und es bliebe nur zu hoffen, daß sie sich friedlich entwickeln, ihre Staatsgrenzen achten und langsam in die weltwirtschaftliche Arbeitsteilung hineinwachsen. In diesem Falle wäre die Vermutung unbegründet, daß sich die Transformationsprozesse in Mittel- und Osteuropa wesentlich beschleunigen lassen. Eine Schnellstraße bzw. eine Abkürzung zu Marktwirtschaft und Demokratie würde es nicht geben.


Literatur: Eucken, W., 1952, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 6. durchges. Aufl., Tübingen 1990; Kiwit, D., Voigt, S., Überlegungen zum institutionellen Wandel unter Berücksichtigung des Verhältnisses interner und externer Institutionen, ORDO, 46 (1995); Mummert, U., Informelle Institutionen in ökonomischen Transformationsprozessen, Baden-Baden 1995; Schüller, A., Ansätze einer Theorie der Transformation, ORDO, 43 (1992), S. 35-63.

 

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