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Prozeßkostenrechnung

I. Begriff: Prozeßkostenrechnung ist ein Begriff, der in der jüngsten Vergangenheit die Kostenrechnungsdiskussion und -gestaltung maßgeblich beeinflußt hat. Prozeßkostenrechnung wird in Deutschland z. T. auch als Vorgangskalkulation bezeichnet. In den USA werden - bei gleichem Inhalt - die Begriffe activity based costing oder cost driver accounting verwandt. - Obwohl z. T. anders dargestellt, stellt Prozeßkostenrechnung kein neues Kostenrechnungssystem dar, das den traditionell unterschiedenen Systemen der Vollkostenrechnung, der Plankostenrechnung oder den unterschiedlichen Formen der Deckungsbeitragsrechnung vergleichbar wäre. Die Kernideen der Prozeßkostenrechnung sind in all diesen Kostenrechnungssystemen realisierbar, haben ihren Anwendungsschwerpunkt jedoch bislang innerhalb von Vollkostenrechnungen (Prozeßkostenrechnung als Vollkostenrechnung).
II. Grundsätzliche Charakterisierung: Prozeßkostenrechnung setzt an Praxismängeln der traditionellen Kostenrechnungssysteme, speziell an Mängeln in der Behandlung von Gemeinkosten, an. 1. Die Kritik betrifft zum einen die Lohnzuschlagskalkulation der Vollkostenrechnung. Man argumentiert, daß Fertigungslöhne angesichts der stark vorangeschrittenen Produktionsautomatisierung (CIM) nur noch ein schlechter Indikator für die produktbezogene Kostenverursachung in den Fertigkostenstellen seien. Diese Kritik findet sich insbes. in den USA, in der die überwiegende Mehrzahl der Unternehmen auch heute noch auf der Basis von direct labor kalkuliert. - 2. Die Kritik betrifft zum anderen die Behandlung der der Fertigung vor- und nachgelagerten Dienstleistungsbereiche, wie z. B. Bestelldisposition, Fertigungsvorbereitung und -steuerung, Lagerungen und Transporte. Für sie dominieren in der Vollkostenrechnung sehr grobe, pauschale Verrechnungsmodi (z. B. in Form von Umlagenanlastung), und auch in der Plankostenrechnung werden sie unzureichend durchdrungen (z. B. genereller Verzicht auf eine analytische Kostenplanung in derartigen Kostenstellen). Durch die verbesserte Durchdringung der Gemeinkostenbereiche verspricht die Prozeßkostenrechnung sowohl eine bessere Steuerung dieser Bereiche als auch eine genauere Produktkalkulation.
III. Vorgehen: Prozeßkostenrechnung geht in mehreren Schritten vor. Die Schritte sind jedem Kostenrechner aus den bekannten Kostenrechnungssystemen geläufig. Konzeptioneller Neuigkeitswert kommt ihnen nicht zu. - 1. Prozeßanalyse: Pro Gemeinkostenbereich (Kostenstelle, wie z. B. Fertigungssteuerung) sind diejenigen Dienstleistungen zu bestimmen, deren Erfüllung der Bereich dient. Hierbei kann man sich methodisch auf Verfahren der Gemeinkostenwertanalyse, des Zero-Base-Budgeting oder ähnlicher Techniken stützen. Zudem liegt für einige Bereiche einschlägige Erfahrung vor (insbes. für die Logistik). Für das Beispiel der Fertigungssteuerung kann es sich bei den Dienstleistungsarten etwa um die "Prozesse - Montageaufträge disponieren, Teile abrufen sowie Fertigungsablauf Montage überwachen" handeln. - 2. Zuordnung von Kosten zu Prozessen: Jedem Prozeß sind die ihm verursachten Kosten zuzuordnen. Je mehr Kostenverbunde bestehen, desto größere Schwierigkeiten sind mit dieser Aufgabe verbunden. In vielen Beispielen zu Prozeßkostenrechnung finden sich deshalb (erhebliche) Kostenschlüsselungen. - 3. Bestimmung der Kostentreiber (cost-driver): Für die Prozeßarten sind im nächsten Schritt die jeweiligen "Kostentreiber" (cost-driver) zu ermitteln, also die Faktoren, die die Inanspruchnahme der entsprechenden Leistungen bestimmen. Für das begonnene Beispiel wäre dies für die beiden ersten Prozesse die Zahl der zu bearbeitenden Fertigungsaufträge, gegebenenfalls unterteilt in Standard- und Sonderaufträge. Für die Überwachungsaufgabe findet sich ein solcher Kostentreiber nur schwer. Derartige Prozesse werden in der Prozeßkostenrechnung auch als "leistungsmengenneutral" bezeichnet. - 4. Prozeßkostenermittlung: Für die Kostentreiber sind die jeweiligen Mengenausprägungen (z. B. Zahl abgewickelter bzw. im nächsten Jahr abzuwickelnder Fertigungsaufträge) zu bestimmen. Dies bedeutet nicht unerheblichen zusätzlichen Erfassungs- und/oder Planungsaufwand, da derartige Informationen bisher nur selten erfaßt und/oder geplant worden sind. - Wie in gewöhnlichen Bezugsgrößenkalkulationen werden Kosten pro Prozeßmengeneinheit (z. B. pro Fertigungsauftrag) ermittelt. Es gibt innerhalb der Prozeßkostenrechnung unterschiedliche Auffassungen, ob man in diese Prozeßkosten pro Prozeßeinheit auch die Kosten der leistungsmengenneutralen Prozesse einbeziehen sollte oder nicht. - 5. Prozeßkostenkalkulation: Im letzten Schritt werden die Prozeßkosten den Produkten im Rahmen der Kostenträgerrechnung belastet. In kostenrechnerischen Termini ausgedrückt wandelt die Prozeßkostenrechnung dazu den Charakter bisheriger Vorkostenstellen in Endkostenstellen um: Während bislang z. B. die Fertigungssteuerung an die Fertigungsendkostenstellen verrechnet wurde, verrechnet sie ihre Kosten in der Prozeßkostenrechnung direkt auf die Produkte. Hierzu muß man zusätzlich festhalten, wieviel Prozeßmengeneinheiten jedes Produkt jeweils in Anspruch genommen hat. Auch hiermit sind erhebliche Erfassungs- und/oder Planungskosten verbunden.
IV. Beurteilung: Die Prozeßkostenrechnung wird aktuell stark propagiert. Sie gilt als "revolutionär", als "strategische Kostenrechnung", als ein neues, überlegenes Kostenrechnungssystem. Auffassungen dieser und ähnlicher Art sind (deutlich) überzeichnet. Die Grundgedanken zur Prozeßkostenrechnung hat Schmalenbach bereits 1899 geäußert. Bei Kilger finden sich viele Gedanken der Prozeßkostenrechnung präziser und differenzierter dargestellt. Neue kostenrechnerische Konzepte enthält die Prozeßkostenrechnung nicht. Bekannte Begriffe werden durch neue Begriffe ersetzt, ohne daß sich die Begriffsinhalte nennenswert ändern. Die Prozeßkostenrechnung postuliert zudem nachdrücklich den Weg zu höherer Detaillierung, ohne den Beleg der Wirtschaftlichkeit dieses Vorgehens anzutreten. Es ist derzeit zu vermuten, daß die Prozeßkostenrechnung als Element der laufenden Kostenrechnung zu aufwendig ist, sie nur als fallweise Rechnung breitflächige Realisierungschancen haben wird. Auf der anderen Seite hat die Diskussion um die Prozeßkostenrechnung dazu geführt, den Gemeinkostenbereichen eine stärkere (und dringend erforderliche) kostenrechnerische Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Prozeßkostenrechnung hat zu einer neuen "Aufbruchstimmung" innerhalb der Kostenrechnung geführt, dies primär in der Praxis, in der die eingeführten Konzepte lange Jahre nicht mehr verändert wurden. Als Kristallisationskern für Überlegungen zu einer Neukonzeptionierung der Kostenrechnung ist die Bedeutung der Prozeßkostenrechnung somit kaum zu überschätzen.


Literatur: Coenenberg, A.-G./Fischer, T.M., Prozeßkostenrechnung - Strategische Neuorientierung der Kostenrechnung, in: DBW, 51. Jg. (1991), S. 21-38; Cooper, R./Kaplan, R.S., Measure Costs Right: Make the Right Decisions, in: Harvard Business Review, Vol. 66 (1988), Heft 5, S. 96-103; Glaser, H., Prozeßkostenrechnung - Darstellung und Kritik, in ZfbF, 44. Jg. (1922), S. 275-288; Horváth, P./Mayer, R., Prozeßkostenrechnung - der Weg zu mehr Kostentransparenz und wirkungsvolleren Unternehmungsstrategien, in: Zeitschrift Controlling, 1. Jg. (1989), S. 214-219; Schmalenbach, E., Buchführung und Kalkulation im Fabrikgeschäft, in: Deutsche Metall-Industrie-Zeitung, 15.Jg. (1899), S. 98-172; Weber, J., Logistikkostenrechnung, Berlin u. a. 1987.

 

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