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Wirtschaftsinformatik

I. Gegenstand und Einordnung: Wirtschaftsinformatik ist als wissenschaftliche Disziplin zwischen der Betriebswirtschaftslehre und der Informatik angesiedelt. - Die Wirtschaftsinformatik befaßt sich a) mit dem Einsatz der Informations- und Kommunikationstechnik in Wirtschafts- und Verwaltungsbetrieben, insbes. mit der Entwicklung und dem Betrieb von computergestützten Administrationssystemen, computergestützten Dispositionssystemen, Informations- und Planungssystemen (Führungsinformationssystem (FIS)), b) mit den Wirkungen der Informations- und Kommunikationstechnik auf die Betriebe und c) mit den für Anwendungen in Wirtschaft und Verwaltung relevanten Grundlagen aus der angewandten Informatik. - Synonym zu Wirtschaftsinformatik wurden früher auch die Begriffe Betriebsinformatik und betriebliche Datenverarbeitung verwendet.
II. Entwicklung: 1. Entstehungsgeschichte: Die Wirtschaftsinformatik ist ein relativ junges Fachgebiet, das in den 70er und 80er Jahren einen schnellen Aufschwung genommen hat. Frühe Ansätze zu einer betrieblichen Datenverarbeitung gehen auf die zweite Hälfte der 50er Jahre zurück, als erste größere Anwendungsprogramme in Unternehmen entstanden und vereinzelt Lehrveranstaltungen an deutschsprachigen Universitäten abgehalten wurden. - Ein Meilenstein war 1963 die Gründung des Betriebswirtschaftlichen Instituts für Organisation und Automation (BIFOA) an der Universität zu Köln durch Erwin Grochla. Die ersten Lehrstühle mit Ausrichtung auf betriebliche Datenverarbeitung wurden 1968 an der Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in Linz und 1970 an der Universität Erlangen/Nürnberg eingerichtet. - Das weitere Wachstum der Wirtschaftsinformatik wurde entscheidend beeinträchtigt, als 1971 im Rahmen des 2. Datenverarbeitungsförderungsprogramms in der Bundesrep. D. zwar ein "Überregionales Forschungsprogramm Informatik" zum Aufbau der Informatik ins Leben gerufen wurde, die Anwendungen der Informatik dabei aber weitestgehend vernachlässigt wurden (Förderung von ca. 50 Forschungsgruppen aus der (reinen) Informatik, nur 2 aus der B.). - 1975 etablierte sich die Wirtschaftsinformatik als "Wissenschaftliche Kommission Wirtschaftsinformatik" im Verband der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft e. V. (seit 1988 "Wissenschaftliche Kommission Wirtschaftsinformatik") und 1978 als Fachausschuß, später als Fachbereich der Gesellschaft für Informatik e. V. Das erste übergreifende Forschungsförderungsprogramm für die Wirtschaftsinformatik wurde 1985-1990 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft eingerichtet. Ein starker Aufschwung der Wirtschaftsinformatik setzte 1989 mit dem Hochschulsonderprogramm I ein, welches u. a. die Einrichtung von Diplomstudiengängen Wirtschaftsinformatik an zahlreichen Universitäten (insbes. in NRW) ermöglichte. - 2. Wissenschaftliche Diskussion über W.: Ein Aufsatz von Hartmut Wedekind mit dem Titel "Was heißt und zu welchem Ende studiert man Betriebsinformatik?" löste eine intensive und kontroverse Diskussion über Gegenstand und Ausrichtung der B. aus, die vor allem zwischen 1980 und 1982 in der Zeitschrift für Betriebswirtschaft geführt wurde und bis heute zu keinem endgültigen Abschluß gekommen ist. Während ein Teil der Fachvertreter die Wirtschaftsinformatik als eigenständige Wissenschaft betrachtete, stufte ein anderer sie als Bestandteil der Betriebswirtschaftslehre ein (etwa i. S. einer speziellen Betriebswirtschaftslehre). Die Diskussion wurde ausschließlich von betriebswirtschaftlich orientierten Fachvertretern geführt. Nach überwiegender Meinung ist die Wirtschaftsinformatik ein interdisziplinäres Fach.
III. Teilbereiche: 1. Informationsverarbeitung und Kommunikation im Betrieb: a) Betriebswirtschaftliche Anwendungssysteme: Die Wirtschaftsinformatik befaßt sich mit grundlegenden Prinzipien für den Einsatz von Anwendungssystemen im Betrieb (z. B. Neuaufwurfsprinzip, Net-change-Prinzip, ereignisorientierte Planung, aktionsorientierte Datenverarbeitung) sowie mit den verschiedenen Typen von Anwendungssystemen (Administrations-, Dispositions-, Informations-, Planungssystemen), die in der Praxis in großer Zahl eingesetzt werden. Hier lassen sich grob unterscheiden: (1) branchenspezifische Systeme, z. B. PPS-Systeme in Industriebetrieben, Warenwirtschaftssysteme in Handelsbetrieben, Systeme für den Zahlungsverkehr in Bankbetrieben; (2) branchenübergreifende Systeme, z. B. für die Finanzbuchführung, Lohn- und Gehaltsabrechnung, Kostenrechnung, Unternehmensplanung, sowie Entscheidungsunterstützungssysteme (decision support system (DSS)) oder Führungsinformationssysteme (FJS). - b) Bürokommunikation und individuelle Datenverarbeitung: Die Wirtschaftsinformatik setzt sich mit der Computerunterstützung am individuellen Arbeitsplatz (individuelle Datenverarbeitung (IDV), personal computing), mit den Kommunikationsformen im Büro (Sprach-, Text-, Bild-, Datenkommunikation) sowie mit der Gestaltung der Büroorganisation und der elektronischen Unterstützung durch Informations- und Kommunikationssysteme auseinander. Dies schließt ein: (1) betriebsinterne Systeme (geschlossene Systeme, die herstellerspezifisch auf der Grundlage eines lokalen Netzes oder einer Nebenstellenanlage arbeiten) und (2) betriebsexterne Systeme, die in der Bundesrep. D. hauptsächlich von der Deutschen Bundespost betrieben werden, z. B. Bildschirmtext (Btx) (T-Online), Telefax-Dienst. - c) Technische Datenverarbeitung als solche ist nicht Bestandteil der Wirtschaftsinformatik Durch die zunehmende Integration computergestützter Systeme aus allen betrieblichen Bereichen wachsen jedoch technische und betriebliche Datenverarbeitung immer weiter zusammen. Die Wirtschaftsinformatik muß sich deshalb mit den Schnittstellen zwischen Systemen zur Fertigungsautomation (z. B. CAD, CAM, CAP, flexible Fertigungssysteme, Industrieroboter) und den betriebswirtschaftlichen Anwendungssystemen sowie den Bürokommunikationssystemen im Sinne eines integrierten betrieblichen Gesamtkonzepts auseinandersetzen (vgl. CIM). - d) Wissensbasierte Systeme: Von den Teilgebieten der künstlichen Intelligenz sind zur Lösung betriebswirtschaftlicher Probleme vor allem die Expertensysteme relevant. Die Wirtschaftsinformatik beschäftigt sich mit den vielfältigen Einsatzmöglichkeiten, wobei die Diagnose, Beratung oder Auswahlhilfe in ganz spezifischen Problemsituationen dominieren. - 2. Systementwicklung: Die Entwicklung betrieblicher Anwendungssysteme stellt einen zentralen Kern der Wirtschaftsinformatik dar. Häufig wird Wirtschaftsinformatik sogar vorrangig unter dem Aspekt der Systementwicklung definiert. Historisch sind hier weitgehend unabhängig voneinander zwei Ansätze entstanden mit eigener, z. T. überlappender Terminologie: a) Systemanalyse: In der "traditionellen" wirtschaftswissenschaftlich orientierten Wirtschaftsinformatik wurde der Gesamtrahmen der Entwicklung und Einführung eines computergestützten Anwendungssystems unter dem Begriff "Systemanalyse" (v. a. von Wedekind geprägt) behandelt; da er nicht nur analytische Tätigkeiten umfaßt, wurde er von anderen Autoren zu "Systemplanung" oder "Systementwicklung" modifiziert. - Die Wirtschaftsinformatik befaßt sich mit den Phasen der Systementwicklung (Phasenmodell), mit den in den Phasen eingesetzten Prinzipien, Methoden und Werkzeugen sowie mit dem Projektmanagement. Ausgangspunkt für die Systemanalyse ist i. d. R. eine Istsituation; für ein bestimmtes betriebliches Problem wird eine Lösung durch ein computergestütztes System erarbeitet, die insbes. die erforderliche Hardware und Softwareprodukte (einschl. Wirtschaftlichkeitsrechnung und Produktauswahl), organisatorische Maßnahmen und das Personal umfaßt. - b) Software Engineering: Losgelöst von bereits existierenden Erkenntnissen der Systemanalyse entstand aus der Angewandten Informatik heraus das Software Engineering, das sich teilweise mit den gleichen Inhalten beschäftigt. Im Gegensatz zu der umfassenden Sicht der Systemanalyse beschränkt sich das Software Engineering jedoch nur auf einen Teilaspekt, nämlich auf die mit der Software verbundenen Fragen. Auch hier werden Phasenmodelle und Probleme des Projektmanagements untersucht. Neben der Softwarequalitätssicherung und -ergonomie liegt der zentrale Kern des Software Engineering in der Softwaretechnologie (Software Engineering IV). - c) Datenorganisation: Daten als wertvolle Ressource eines Unternehmens werden in der Wirtschaftsinformatik mit wachsender Bedeutung behandelt. Während früher Daten vorrangig nach den Bedürfnissen der sie bearbeitenden Programme in isolierten Dateien organisiert wurden, steht heute die Datenintegration mit Hilfe von Datenbanksystemen im Vordergrund. - 3. Informationsmanagement: In zunehmendem Maße behandelt die Wirtschaftsinformatik Fragen des Managements der Informationsgewinnung, -verarbeitung und -aufbereitung im Unternehmen. - a) Die Aufbauorganisation der Datenverarbeitung rückt angesichts der Vielzahl technischer Möglichkeiten in den Vordergrund, z. B. Organisationsformen verschiedenen Dezentralisierungsgrads (distributed data processing (DDP), information center) neben der traditionellen zentralisierten Organisation eines Rechenzentrums. - b) Der Systembetrieb umfaßt den Einsatz der Anwendungssysteme im praktischen Betrieb, z. B. Arbeitsvorbereitung und Abwicklung der Jobs bei Stapelbetrieb, job accounting. - c) Die Wirtschaftsinformatik entwickelt für das Informationsmanagement Prinzipien und Methoden, z. B. Informationswertanalyse, information ressource management, individuelle Datenverarbeitung (IDV). - d) Sie befaßt sich mit organisatorischen Maßnahmen zum Datenschutz und zur Datensicherung. - 4. Informatikmarkt: Für Produkte der Informations- und Kommunikationstechnik existieren äußerst dynamische Märkte. Die Wirtschaftsinformatik behandelt Produkte, Anbieter und Nachfrager auf dem Hardwaremarkt und dem Softwaremarkt vor allem unter dem Aspekt der Produktwahl bei der Systemanalyse. Zunehmendes Interesse wird dem Markt für Standardsoftware zuteil. In Zusammenhang mit den Produkten gewinnt die internationale Standardisierung an Gewicht (z. B. Standardisierung von Programmiersprachen). - 5. Basistechnologie: Die Wirtschaftsinformatik beschäftigt sich schließlich mit anwendungsorientierten Grundlagen der Informations- und Kommunikationstechnik, soweit sie für den Einsatz in einer betriebswirtschaftlichen Umgebung unter den o. g. Punkten relevant sind. - a) Rechnersysteme: Die Rechnergruppen und Peripheriegeräte werden vorrangig unter dem Aspekt der Eignung für spezifische betriebliche Problemlösungen und ihre Einbindung in das Informationsmanagement untersucht. - b) Netze bilden die Basis für betriebsinterne und betriebsexterne Systeme zur Bürokommunikation und für den Computerverbund. - c) Basissoftware: Die Wirtschaftsinformatik untersucht die Eignung von anwendungsnaher Software (z. B. Endbenutzersysteme, Endbenutzerwerkzeuge, Datenbanksysteme) und systemnaher Software (Betriebssysteme, Softwarewerkzeuge) für den betrieblichen Einsatz und formuliert Anforderungen für die Entwicklung von Basissoftware.
IV. Gegenwärtiger Entwicklungsstand: 1. Institutionelle Verankerung: a) Verbände: Die Fachvertreter der Wirtschaftsinformatik sind weitestgehend in der Wissenschaftlichen Kommission "Wirtschaftsinformatik" im Verband der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft e. V. organisiert, großenteils auch im Fachbereich 5 ("Wirtschaftsinformatik") der Gesellschaft für Informatik e. V. - b) Ansiedlung: An den deutschsprachigen Hochschulen gehören die Fachvertreter fast ausschließlich den wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultäten (bzw. Fachbereichen) an. - c) Ausbildung: (1) Wirtschaftsinformatik ist als Fach an fast allen wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultäten vertreten, teils als Wahlpflichtfach (z. B. als eine Spezielle Betriebswirtschaftslehre), Wahlfach (Ergänzungsfach) oder Pflichtfach, teils als eigener Studiengang. (2) Das Lehrprogramm in Wirtschaftsinformatik wird an den meisten Hochschulen ganz oder überwiegend von den wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fachbereichen/Fakultäten erbracht, soweit Wirtschaftsinformatik Bestandteil eines wirtschaftswissenschaftlichen Studiengangs ist. An Diplom-Studiengängen Wirtschaftsinformatik sind oft auch Informatik-Fachbereiche bzw. -Fakultäten beteiligt. - 2. Ausbildungsinhalte: Studienempfehlungen für Wirtschaftsinformatik entstanden auf Initiative der Wissenschaftlichen Kommission Wirtschaftsinformatik im Verband der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft e. V. unter Beteiligung der Gesellschaft für Informatik e. V. und teilweise der Schmalenbach-Gesellschaft. Die Empfehlung zur W.-Ausbildung im Rahmen eines wirtschaftswissenschaftlichen Studiums wurde 1990, die Empfehlung für Diplom-Studiengänge Wirtschaftsinformatik 1992 veröffentlicht (vgl. Anforderungsprofil für die Universitätsausbildung in Wirtschaftsinformatik in wirtschaftlichen Studiengängen, Wirtschaftsinformatik 5/90, Oktober 1990, S. 472-474; Rahmenempfehlung für Diplom-Studiengänge Wirtschaftsinformatik an Universitäten, Informatik-Spektrum, Band 15 Heft 2, April 1992, S. 101-105). - Lehrbücher behandeln die Wirtschaftsinformatik zunehmend anwendungsorientiert i. S. der eingangs gegebenen Definition. Dennoch stellen auch heute noch viele Werke, die "Betriebsinformatik" oder "Wirtschaftsinformatik" im Titel tragen, stark die technischen und instrumentellen Aspekte des Fachs in den Vordergrund. - 3. Forschungsaktivitäten: W.-Forschung wird auf allen unter Punkt III. genannten Gebieten betrieben. Besondere Schwerpunkte bilden zur Zeit die Bereiche CIM, Bürokommunikation, verteilte betriebliche Anwendungssysteme (distributed data processing (DDP)), Anwendungen der künstlichen Intelligenz (KI) für betriebswirtschaftliche Aufgaben, CASE, Unternehmensmodellierung (Daten-, Funktionen-, Vorgangsmodellierung), IV-Controlling, Datenmanagement. u. a.


Literatur: Hansen, H. R., Wirtschaftsinformatik I, 5. Aufl., Stuttgart 1986; Heinrich, L. J., Wirtschaftsinformatik in Forschung und Ausbildung, Information Management 1, 1986, H. 1, S. 63-69; Heinrich, L. J., Was ist Betriebsinformatik?, ZfB 52, 1982, H. 7, S. 667-670; Kurbel, K./Strunz, H., Handbuch Wirtschaftsinformatik, Stuttgart 1990; Mertens, P., Industrielle Datenverarbeitung 1, 8. Aufl., Wiesbaden 1991; Mertens, P./Wedekind, H., Entwicklung und Stand der Betriebsinformatik, ZfB 52, 1982, H. 5, S. 510-525; Müller-Merbach, H., Betriebsinformatik am Ende?, ZfB 51, 1981, H. 3, S. 274-282; Österle, H., Entwurf betrieblicher Informationssysteme, München, Wien 1981; Scheer, A.-W., Die Stellung der Betriebsinformatik in Forschung und Lehre, ZfB 50, 1980, H. 11/12, S. 1279-1283; Scheer, A.-W., EDV-orientierte Betriebswirtschaftslehre, 4. Aufl., Berlin 1990; Scheer, A.-W., Wirtschaftsinformatik, 3. Aufl., Berlin 1991; Stahlknecht, P., Betriebsinformatik - Wissenschaft oder Streit um Begriffe?, ZfB 50, 1980, H. 11/12, S. 1274-1278; Stahlknecht, P., Einführung in die Wirtschaftsinformatik, 5. Aufl., Berlin, Heidelberg 1991; Steffens, F., Betriebsinformatik als wissenschaftliche Disziplin und als Gegenstand eines akademischen Studiums, ZfB 52, 1982, H. 7, S. 671-679; Wedekind, H., Was heißt und zu welchem Ende studiert man Betriebsinformatik?, ZfB 50, 1980, H. 11/12, S. 1268-1273; Wedekind, H., Systemanalyse - Die Entwicklung von Anwendungssystemen für Datenverarbeitungsanlagen, 2. Aufl., München, Wien 1976.

 

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