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Sozialpolitik

1. Begriff: Sozialpolitik ist Politik zur Lösung "sozialer Probleme" die aus der gesellschaftlichen Schwäche der Lebenslagen von Individuen und Personenmehrheiten (Klasse, Gruppe etc.) resultieren (Theorie der Sozialpolitik 1). - 2. Begründung: für Sozialpolitik und die übergeordneten Prinzipien sozialpolitischen Handelns lassen sich aus den unterstellten Oberzielen der Gesellschaft, die auch für die Wahl der grundlegenden Ordnungsregeln entscheidend sind, herleiten. In einer offenen Gesellschaft freier Bürger kann dabei über den Ansatz der Wohlfahrtsökonomik (normativen Ökonomik) hinaus die Denkfigur des Sozialvertrags zur Begründung von Sozialpolitik herangezogen werden. - a) Sozialvertrag: Die Idee des Sozialvertrages besteht darin, die Ordnungsregeln und Institutionen zu ermitteln, die in einer Gesellschaft freier und gleicher Bürger aus einem vorkonstitutionellen Zustand bei der Wahl einer Verfassung einstimmig akzeptiert würden. Folgt man der liberalen Tradition und dem wohlfahrtsökonomischen Denken und geht von der Annahme einer eigennützig-rationalen Verhaltensdisposition der freien Bürger aus, dann verspricht eine sozialvertraglich getroffene Ordnung mit persönlicher Entfaltungsfreiheit, Selbstverantwortlichkeit (auch auf der Grundlage von Privateigentum), Vertragsfreiheit und offenem Wettbewerb größtmögliche Wohlfahrt für alle und daher am ehesten eine einstimmige Annahme. Der Vorzug dieser Ordnung besteht unter sozialethischen Gesichtspunkten in den bescheidenen Anforderungen an die Moral der Bürger: Sie gewährleistet ein Wohlfahrtsoptimum mit Effizienz und Leistungsgerechtigkeit auch bei nur eigennützigen (ihre eigene Nutzenfunktion verfolgenden) Menschen, ohne aber damit den Egoismus zu bevorzugen. - Diese Ordnung stellt aber auch keine Idealordnung dar, die der Ergänzung durch Sozialpolitik nicht bedürfte. Vielmehr ist bei einer solchen Ordnung (1) eine staatliche Gewährleistung der Wettbewerbsordnung auch als Sozialpolitik zur Erhaltung der Freiheit der Marktteilnehmer, zur Machtkontrolle und zur Verhinderung von Nicht-Leistungseinkommen (z. B. von Monopolgewinnen) erforderlich. (2) Daneben kann die Existenz positiver und negativer externer Effekte bei Produktion und Konsum sozialpolitische Interventionen begründen, die sich für die Gesellschaft als wohlfahrtssteigernd (paretosuperior) auswirken können. (3) Die Unvollkommenheit der Kapitalmärkte oder das Versagen von Versicherungsmärkten (z. B. bei moral hazard oder adverse selection) läßt sozialpolitische Institutionen der intertemporalen Umverteilung von Leistungseinkommen über eine Versicherungspflicht oder auch eine Pflichtversicherung unter Anwendung des Äquivalenzprinzips als eine für alle vorteilhafte Lösung erscheinen (vgl. auch Generationenvertrag). (4) Schließlich könnte in diesem Sozialvertrag sogar eine Mindestbedarfssicherung durch interpersonelle Umverteilung zur Verhinderung von Eigentumskriminalität allgemeine Akzeptanz finden. (5) Die Hauptaufgabe einer Sozialpolitik in diesem Ordnungssystem könnte jedoch in einer den gesellschaftspolitischen Zielen gemäßen Gestaltung der Anfangsausstattungen der Bürger bestehen. Da der Ausgangszustand formal und materiell gleicher und freier Bürger in der Realität nie gegeben ist, bedarf es zumindest einer sozialpolitischen Entscheidung über die Gestaltung der Anfangsausstattungen (Startchancengerechtigkeit). (6) In einem letzten Schritt kann Sozialpolitik innerhalb einer solchen Sozialvertragsvorstellung auch allgemein zur Sicherung von Mindestbedarfsgerechtigkeit auf einem soziokulturell für angemessen gehaltenen Niveau begründet werden (John Rawls "Theorie der Gerechtigkeit"). - Folgerungen: (1) Die Gesamtheit der sozialpolitischen Handlungsmöglichkeiten, die sich systemkonform mit einer solchen Gesellschaftsordnung eigennützig-rational handelnder, freier und gleicher Bürger verbinden läßt, kann der Wohlfahrtsökonomik folgend als paretianische Sozialpolitik verstanden werden. (2) Allerdings werden die Begründungen für Sozialpolitik in einem Sozialvertrag auf der Grundlage von Freiheit (formale Freiheit rechtlichen Dürfens) und Gleichheit (formal: Gleichheit vor dem Gesetz, materiell: Gleichheit der Startchancen) teilweise für unzureichend gehalten. Sozialpolitik wird darüberhinaus durch den Bezug auf die Norm der Solidarität und auf die gesellschaftlichen Ziele der materialen Freiheit (als die Möglichkeit, im Rahmen der formalen Freiheit eigene Ziele auch tatsächlich verwirklichen zu können) und der sozialen Gerechtigkeit (die auch eine gewisse Gleichheit der materialen Freiheit über die Startchancen hinaus einbezieht) begründet. Schließlich kann in der konkreten Gesellschaftsordnung der Bundesrep. D. auf das Sozialstaatsgebot der Verfassung (Art. 20 und 28 GG) zurückgegriffen werden, um die Sozialpolitik mit einem Verfassungsprinzip, das die Gesamtheit dieser gesellschaftlichen Ziele ausgewogen berücksichtigt, zu rechtfertigen. (3) Neben der Begründung von Sozialpolitik können aus den übergeordneten gesellschaftlichen Normen und Zielen auch die Gestaltungsprinzipien der Sozialpolitik abgeleitet werden.- 3. Instrumentarium der Sozialpolitik: a) Handlungsmöglichkeiten: (1) Die praktische Sozialpolitik verfügt grundsätzlich über das gesamte Instrumentarium einer politischen Intervention in das gesellschaftliche Geschehen. Der Katalog der Handlungsmöglichkeiten (Mittel) der Sozialpolitik reicht von der reinen Information und Beratung, der sozialpädagogischen Betreuung (Sozialarbeit) und der politischen Überzeugung (moral suasion) über die rechtlichen Möglichkeiten der normativen Regulierung privater Entscheidungen und Verträge zu den fiskalischen Mitteln der Zwangsabgaben einerseits und der Transfers an Haushalte bzw. der Subventionen an Unternehmen andererseits, einschließlich der staatlich organisierten Güter- und Dienstleistungsangebote (Realtransfers). Regulierung i. w. Sozialpolitik umfaßt marktorganisatorische Interventionen von den Markt-Daten über die Markt-Strukturen bis zu den Markt-Elementen einschließlich der Anwendung staatlichen Zwangs (z. B. bei der Durchsetzung von Abgabepflichten oder bei einem resozialisierenden Strafvollzug). (2) Im Vergleich zur praktischen Wirtschaftspolitik dürfte die Anwendung dieses sozialpolitischen Instrumentariums in konkreten Maßnahmen nur am Rande von den z. B. in der Wirtschaftsstrukturpolitik eingesetzten Mitteln abweichen und lediglich auf den individualisierten Gebieten der Jugendhilfe und der Sozialhilfe in besonderen Lebenslagen ein Übergewicht nicht ökonomischer und auch nicht ökonomisch-relevanter Mittel aufweisen. Daher können auch Aussagen der Lehre von den Instrumenten der Wirtschaftspolitik weitgehend übertragen werden. Bei den rechtlichen Möglichkeiten der Einschränkung von Handlungs- und Vertragsfreiheiten (Regulierung i. e. S.) kann insbes. auf den Bedarf an staatlicher Kontrolle zur Einhaltung sozialpolitischer Normen, z. B. beim Arbeitnehmerschutz (Gefahren- und Betriebsschutz, Kündigungsschutz, Schutz besonderer Arbeitnehmergruppen), beim Mieter- und Verbraucherschutz oder bei Umweltgeboten und -verboten, hingewiesen werden. - b) Wirkungen: Bei Transfers und Subventionen besteht neben der Möglichkeit von Mitnahmeeffekten und Gewöhnungseffekten wie bei Zwangsabgaben die Gefahr einer Überwälzung, so daß Zahlung bzw. Zahlungsempfang und reale Inzidenz einer Belastung oder einer Begünstigung nicht übereinzustimmen brauchen. - Die Analyse der Marktkonformität und der Systemkonformität kann für die Mittelauswahl der sozialpolitischen Mittel (wie bei der Wirtschaftspolitik) im Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft eine Präferenz für (1) generelle gegenüber speziellen Regulierungen, (2) indirekte (in bezug auf Marktdaten, Anreize, Abschreckung) gegenüber direkten Interventionen in Marktelemente (z. B. Mengen, Preise) sowie (3) weniger intensive (Information, Beratung) gegenüber intensiven Mitteln (Gebote/Verbote) bestimmen. Darüber hinaus verweist die Analyse der Systemkonformität auf die Gefahr einer kumulativen Systemgefährdung oder Systemauflösung infolge der Wirkungsinterdependenzen von im einzelnen vielleicht systemverträglichen politischen Interventionen. - Häufig werden die mit der Sozialpolitik verbundenen ökonomischen Effizienzverluste infolge von Anreizproblemen und Zusatzkosten (Excess Burden) jedoch mit einem theoretischen und nicht realisierbaren Ideal (Wohlfahrtsoptimum, vollständiger Wettbewerb) verglichen. Die Abweichung vom Ideal wird dabei verbreitet als ausreichender Nachweis für die Vorstellung akzeptiert, daß Sozialpolitik insgesamt einen Kostenfaktor, eine Belastung der Wirtschaft und eine Gefahr für die Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft darstelle. Demgegenüber wird auf den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wert der Sozialpolitik, vor allem auf den Beitrag der Sozialpolitik zur Produktivität der Wirtschaft (z. B. als Wirtschaftsgrundlagenpolitik, insbes. in bezug auf den Faktor Arbeit) und zur Verbesserung der Gesamtleistungsfähigkeit des gesellschaftlichen Systems nur vereinzelt hingewiesen. - Beispiele: (1) Erhaltung von Leben und Gesundheit der Menschen mit der Folge einer längeren Lebenserwartung und einer Ausweitung des Arbeitspotentials; (2) längerfristige Lebens-, Spar- und Konsumplanung aufgrund der Gewährleistung sozialer Sicherheit; (3) qualitative Verbesserung des Humankapitals über Aus- und Weiterbildung; (4) Mobilisierung von Leistungs- und Risikobereitschaft in breiten Mittelschichten; (5) Sicherung von Arbeitsfrieden und sozialem Frieden durch Tarifautonomie und Mitbestimmung (6) Stabilisierung der Demokratie und freiheitlicher gesellschaftlicher Institutionen durch die Vermeidung umfassender Wirtschaftskrisen und durch die Absicherung im Falle der Arbeitslosigkeit. - Vgl. auch soziale Sicherung, sozialpolitische Institutionen in der Bundesrep. D., Gestaltungsprinzipien der Sozialpolitik. - 4. Entwicklung: Für die soziale Frage des 19. Jahrhunderts hat Hans Achinger darauf hingewiesen, daß die Lage des ländlichen Proletariats noch weit schlechter war als die der damals im Mittelpunkt des sozialpolitischen Interesses stehende Industriearbeiterschaft. Die ersten Reaktionen des Staates auf die Lage des Industrieproletariats (Proletaritätsmerkmale) in Form der Einschränkung bzw. des Verbots der Kinderarbeit verdeutlichen auch, daß staatliche Sozialpolitik weniger humanitären Beweggründen folgt, sondern vielmehr der Gefahr des Verlusts einer gesellschaftlich bedeutsamen Leistung begegnet (z. B. der Wehrtauglichkeit der Jugendlichen aus dem schnell wachsenden "4. Stand" der Arbeiterklasse). Diese Abhängigkeit des Problembewußtseins und der Problemlösungsbereitschaft des Staates von der Relevanz eines sozialen Problems für das Gesellschaftssystem ist vermutlich dann besonders ausgeprägt, wenn soziale Probleme die gesamte Gesellschaftsordnung und insbes. das politisch-administrative System gefährden, wenn also ein gesellschaftlicher Umsturz oder ein revolutionärer Austausch der politischen Eliten drohen. Für Deutschland bringt dies bspw. die Kaiserliche Botschaft von 1881, mit der - als "Zuckerbrot" zur "Peitsche" des Sozialistengesetzes von 1872 - im Deutschen Reich das Bestreben um Integration der sich gewerkschaftlich-sozialreformatorisch oder sozialrevolutionär formierenden Arbeiterschaft durch die Gesetzgebung zur Bismarckschen Sozialversicherungspolitik angekündigt wurde, in aller Deutlichkeit zum Ausdruck. Die Motivation der Systemerhaltung hat der staatlichen Sozialpolitik bis in die Gegenwart im Bereich der Arbeiterbewegung Kritik und auch Ablehnung eingebracht. Bei dieser Einschätzung wurden allerdings die von den Motiven unabhängigen positiven Auswirkungen dieser staatlichen Sozialpolitik auf die gesellschaftliche Schwäche der Lebenslagen von Arbeitnehmern und auch auf das Erstarken und die Stabilisierung der Gewerkschaften und sozialdemokratischer politischer Strömungen nicht berücksichtigt. (a) Die Expansion der Sozialpolitik bis zur Weimarer Republik und nach dem 2. Weltkrieg - die Zeit des Nationalsozialismus muß als Systembruch hier außer acht bleiben - über eine Schutzpolitik zur Ausgleichs- und gesellschaftsgestaltenden Politik im Sozialstaat wie in den Wohlfahrtsstaaten folgt zum einen dem Wachstum des wirtschaftlichen Wohlstands. Ihre Entfaltung folgt zum anderen einer Dringlichkeitsabstufung sozialer Probleme, die den Vorstellungen von einer Bedürfnishierarchie bzw. der Abfolge von Bedürfnisdringlichkeiten in der Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit (A. Maslow) entsprechen dürften. Zunächst werden Gefahren für Leben und Gesundheit, dann die Sicherung der Versorgung bei Grundbedürfnissen angegangen, bevor die Sozialpolitik zur Verbesserung des sozialen Status und des Spielraums zur Selbstverwirklichung übergeht (z. B. in der Mitbestimmung, der Bildungspolitik oder der Humanisierung der Arbeit). Bei wirtschaftlichen Strukturkrisen und in Rezessionsphasen bestätigt sich diese Interdependenz von Sozialpolitik und Wirtschaftspolitik unabhängig von der Ausrichtung der politischen Mehrheiten auch bei der Einschränkung der Expansion der Sozialpolitik oder bei der Rücknahme sozialpolitischer Entscheidungen.


Literatur: Achinger, H., Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1971; Albers, W., Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, in: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaften, Bd. 7, 1977, Sozialpolitik 110-130; Ferber, Ch. von, Sozialpolitik in der Wohlstandsgesellschaft, Hamburg 1967; Flora, P., Heidenheimer, A. J. (Hrsg.), The Development of Welfare-States in Europe and America, New Brunswick, London 1984; Frerich, J., Sozialpolitik, 2. Aufl., München, Wien 1990; Frerich, J., Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik, 3 Bde., München, Wien 1993; Kleinhenz, G., Probleme wissenschaftlicher Beschäftigung mit der Sozialpolitik, Berlin 1970; Külp, B., Haas, H. D. (Hrsg.), Soziale Probleme der modernen Industriegesellschaft, Berlin 1977; Lampert, H., Lehrbuch der Sozialpolitik, 3. Aufl., Berlin u. a. 1995; Liefmann-Keil, E., Ökonomische Theorie der Sozialpolitik, Berlin u. a. 1961; Maydell, B. v., Kannengießer, W. (Hrsg.), Handbuch Sozialpolitik, Pfullingen 1988; Ritter, G. A., Der Sozialstaat, 2. Aufl., München 1991; Rolf, G., Spahn, P. B., Wagner, G. (Hrsg.), Sozialvertrag und Sicherung, Frankfurt/M., New York 1988; Sanmann, H., Sozialpolitik, in: Ehrlicher, W. et al. (Hrsg.), Kompendium der Volkswirtschaftslehre, Bd. 2, 4. Aufl., Göttingen 1975, Sozialpolitik 188-205; Schmidt, M. G., Sozialpolitik, Opladen 1988; Sozialwissenschaftliches Forschungszentrum Berlin-Brandenburg (Hrsg.), Sozialreport, Berlin 1995; Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Datenreport, Bd. 5, Stuttgart 1992; Wiese, L. von, Sozialpolitik als Wissenschaft, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 9, Stuttgart, Tübingen, Göttingen 1956, Sozialpolitik 547-554.

 

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