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Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland seit 1990

Die deutsche Wirtschaft seit 1990 prägen drei Entwicklungslinien: (1) Folgen der Deutschen Einigung; (2) strukturelle und konjunkturelle Veränderungen; (3) Fortsetzung der Europäischen Integration.
I. Die Folgen der deutschen Einigung: 1. Anpassungsprozesse in den Neuen Bundesländern: Die DDR-Industrie war überwiegend nicht konkurrenzfähig, weil die Produktion das Weltmarktniveau in der Regel nicht erreichte. Der erforderliche Anpassungsprozeß wurde dadurch erschwert, daß nun der Handel mit den früheren RGW-Partnern ausfiel. Da die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) und die anderen osteuropäischen Länder selbst in der Krise steckten, brach der nun auf Hartwährung umgestellte Handel mit diesen Staaten, in den die DDR-Wirtschaft eingebunden gewesen war, trotz staatlicher Bürgschaften zusammen. Die Ära der Verrechnungseinheiten endete, die Preise wurden ab 1.1.1991 frei ausgehandelt. Den raschen wirtschaftlichen Neubeginn erschwerten ferner folgende Faktoren: (1) Überalterung und schlechter Zustand der Maschinen, Anlagen, des Verkehrs-, Transportwesens und der Wohnungen; (2) Neuordnung der Eigentumsverhältnisse. Der Staatsvertrag legte fest, daß enteignetes Grundeigentum grundsätzlich den früheren Eigentümern oder ihren Erben zurückzugeben war (Rückgabe vor Entschädigung) mit Ausnahme der Enteignungen auf besatzungsrechtlicher Grundlage 1945-1949 (vgl. Bodenreform); (3) Altlast der Umweltschäden durch den Braunkohleabbau, die Verbrennung der besonders schwefelreichen Braunkohle (hohe Schwefeldioxydbelastung v.a. im Süden) und durch unzulängliche Umweltschutzstandards in der Landwirtschaft (Überdüngung, intensive Bewirtschaftung), bei der Industrieproduktion, Abwasser- und Abfallwirtschaft. (4) Währungsumstellung zu einem Kurs, der den Erwartungen der DDR-Bevölkerung stärker als der Wirtschaftskraft Rechnung trug. Die Aufwertung um faktisch mehr als das Dreifache beeinträchtigte die ostdeutsche Produktion nachhaltig; (5) Die Tarifpartner näherten das Lohn- und Gehaltsniveau in den neuen Bundesländern rascher an das der alten Bundesländer an als es dem Aufholprozeß der Produktivität entsprach. Auch dies verschlechterte die Konkurrenzsituation der ostdeutschen Produktion; (6) Die Mentalität der Konkurrenzgesellschaft, innovatives und kreatives Denken etc. hatten sich in der staatlichen Zentralverwaltung der DDR nicht ausbilden können; (7) Auch die exorbitant hohe Staatsverschuldung beeinträchtigte den Aufschwung. Mit dem Einigungsvertrag übernahm faktisch der Bund die Gesamtverschuldung der DDR und den dazu erforderlichen Schuldendienst (vgl. Fonds Deutsche Einheit). - 2. Die Regierungen von Bund und Ländern strebten an, möglichst rasch einheitliche Lebensverhältnisse in Ost und West herbeizuführen. Maßnahmen: a) Um dies zu erreichen, gaben Bund, Länder, Kreise und Gemeinden umfangreiche administrative und finanzielle Hilfe: Sie entsandten Fachbeamte, leisteten logistische Hilfe, gewährten Subventionen und räumten umfangreiche Steuervergünstigungen etc. ein: u. a. Sonderabschreibungen, günstige Kredite für Existenzgründung, Modernisierung, Umweltschutzinvestitionen, Bürgschaften. Insgesamt flossen 1990 bis 1995 in die neuen Länder öffentliche Mittel in Höhe von 980 Mrd. DM brutto, d. h. nach Abzug der Rückflüsse (Steuern und Abgaben) 782 Mrd. DM netto. b) Ferner wurden in großem Umfang arbeitsmarktpolitische Instrumente eingesetzt wie Arbeitsbeschaffungs- und Weiterbildungsmaßnahmen, großzügige Kurzarbeiter-, Vorruhestands- und Altersübergangsregelungen. Von den Ausgaben der Bundesanstalt für Arbeit wurden 1991 42 Mrd. DM im Westen, 30 Mrd. im Osten ausgegeben. Von den Beiträgen allerdings stammten 65,6 Mrd. aus dem Westen, 4,6 Mrd. aus dem Osten. c) Für die erforderliche Privatisierung wurde 1990 die Treuhandanstalt geschaffen. Sie erhielt die Aufgabe, die früher Volkseigenen Betriebe "wettbewerblich zu strukturieren und zu privatisieren". Bis zum Sommer 1995 brachte sie die Privatisierung von mehr als 15.000 ehemaligen Staatsunternehmen zum Abschluß. Nachfolgerinnen sind ab 1.1.1995 die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben und weitere Gesellschaften. - Bei der Aufstellung der DM-Eröffnungsbilanzen zeigte sich, daß die meisten ostdeutschen Betriebe einen Überhang von Schulden über ihre Vermögenswerte hatten. Schulden und Sanierungskosten der Unternehmen, die die Treuhand und ihre Nachfolgerinnen bis zum 15. 6. 1995 übernahmen, betrugen 332 Mrd. DM. Dem standen Einnahmen aus dem Verkauf etc. von 76 Mrd. DM gegenüber. Zur Finanzierung richteten Bund und Länder den Fonds Deutsche Einheit ein. Ferner stellte das Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost Mittel für Städtebau, Hochschulwesen, Arbeitsbeschaffung etc. bereit. Der Kreditabwicklungsfonds übernahm u. a. die Schulden des DDR-Staatshaushalts über 27 Mrd. DM (1995) sowie Ausgleichsforderungen in Höhe von 74 Mrd. DM (1995), die die früheren DDR-Banken, Sparkassen und Außenhandelsbetriebe auf Grund unterschiedlicher Währungsumstellung der Spareinlagen und ihrer Aktiva haben. Das Defizit der Treuhand, der Kreditabwicklungsfonds und eine Teilentlastung der ostdeutschen Wohnungsunternehmen (31 Mrd. DM) wurden im Erblastentilgungsfonds zusammengefaßt. Die Zins- und Tilgungszahlungen für das Gesamtvolumen der Verbindlichkeiten von rund 340 Mrd. DM (1995) trägt der Bund. Zur Finanzierung erhebt er einen Solidaritätszuschlag von 7,5% auf die Lohn-, Einkommen- und Körperschaftssteuerschuld. Ferner wurden die öffentliche Verschuldung ausgeweitet, Ausgaben gekürzt und Steuervergünstigungen reduziert. Schließlich wurden die Mehrwertsteuer am 1. 1. 1993 von 14% auf 15% und eine Reihe von Verbrauchsteuern angehoben sowie die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung von 4,3% in 1990 auf 6,5% (seit 1993) erhöht. Zusammengenommen brachte dies den westdeutschen Privathaushalten eine Mehrbelastung von 44,8 Mrd. DM 1991 und von 63,7 Mrd. DM 1992. Im Zuge der Umstellung des Rentensystems der DDR mit ihren unzulänglichen und statischen Renten auf das dynamisierte System der Bundesrepublik wurden die Beitragszahler im Westen entsprechend belastet. Die Sozialversicherungen transferierten 1991 21,6 Mrd. DM in die neuen Bundesländer. 1992, 1993 und 1994 waren es 29,1, 23,9 und 31,3 Mrd. DM.
II. Strukturelle und konjunkturelle Veränderungen: 1. Die Bevölkerung der Bundesrep. D.: a) Sie umfaßte 1990 neben den 63,25 Mio. Menschen der alten Bundesländer 16,11 Mio. Menschen in den neuen Ländern und in Ostberlin. 1995 waren es 81,64 Mio. Davon waren 47,17 Mio. Ausländer (8,8%). Die Bevölkerung auf dem Gebiet der früheren DDR nahm nach der Einigung weiter ab. 1995 lebten dort noch 15,50 Mio. Personen. Hingegen verstärkte sich mit dem Zusammenbruch des Ostblocks der Zustrom von Aussiedlern bedeutend. 1990 wurden 397.075 Personen aufgenommen. Seither sind es jährlich rund 220.000 Menschen (1994: 222.591). Die meisten stammen aus der früheren Sowjetunion. b) Die Zuwanderung hatte zur Folge, daß es in den alten Bundesländern seit 1990 erstmals nach 1971 wieder mehr Geburten als Sterbefälle gibt. Die Lebenserwartung neugeborener Jungen beträgt 72,8, von Mädchen 79,3 Jahre; im Westen ist sie etwa ein halbes Jahr höher, im Osten zwei Jahre niedriger (1992/94). c) Die Haushalte umfaßten 1994 durchschnittlich 2,2 (West) und 2,3 (Ost) Personen; 36% der Haushalte im Westen und 30% im Osten waren Einpersonenhaushalte. Die Werte für die neuen Bundesländer nähern sich denen für die alten an. d) Die Erwerbsquote (Anteil der Erwerbspersonen an der Wohnbevölkerung) betrug 1995 in den alten Bundesländern 46,5%. In den neuen Ländern lag sie wegen der höheren Frauenerwerbstätigkeit bei 50,2%. Von den 29,78 Mio. Erwerbstätigen in den alten Bundesländern arbeiteten 3,3% im primären, 39,1% im sekundären Sektor; in den neuen Bundesländern waren es 4,2% bzw. 37,6% der 6,60 Mio. Erwerbstätigen. Angestellte waren 43,8% im Westen und 48,9% im Osten, Arbeiter 37,2% und 45,4%, Beamte 8,2% und 1,2%, Selbständige und Mithelfende Familienangehörige 10,8% und 4,6% (alle Angaben Mikrozensus April 1993). - 2. Die Wirtschaftsentwicklung verlief in den alten und neuen Bundesländern unterschiedlich. a) In der früheren DDR führte die Transformation der staatlichen Zentralverwaltungs- in die Soziale Marktwirtschaft in der ersten Phase zu einem Strukturbruch und einer Transformationskrise. Anfangs brachen Produktion und Beschäftigung massiv ein. Am stärksten waren die Feinmechanik und Optik, Büromaschinen und EDV betroffen. Das Bruttosozialprodukt in Ostdeutschland schrumpfte 1991 real um 30,3% gegenüber 1990. Die ersten Branchen mit überproportionalem Wachstum waren der Handel, die Kredit- und die Versicherungswirtschaft. Danach setzte als zweite Phase ein allmählicher Umstellungs- und Aufholprozeß des warenproduzierenden Gewerbes ein. 1991 investierten westdeutsche Unternehmen 25,5 Mrd. DM, 1992 43,5 Mrd. DM, allen voran die Bundespost/Telekom und die Industrie. Nun wuchs die Produktion im Bau- und im verarbeitenden Gewerbe überproportional. Es setzte eine starke Re-Industrialisierung ein. Dabei blieb das überkommene Süd-Nord-Gefälle bestehen. Allerdings blieb die Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Unternehmen noch immer weit zurück, die Produktivität betrug 1994 erst 54% des westdeutschen Niveaus. Das Lohnniveau (Effektivverdienste) betrug in Ostdeutschland 1994 rund 70% des westdeutschen. Zugleich erreichten die verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte je Einwohner etwa 67% des Westniveaus. b) In Westdeutschland kam es im Unterschied zum starken Einbruch im Osten 1990/91 zu einer durch öffentliche Verschuldung mitfinanzierten Sonderkonjunktur mit einem konsumtiven Nachfrageschub und hoher Investitionsdynamik. Er wurde durch die starke Nachfrage der früheren DDR-Bewohner nach westlichen Konsumgütern (Autos, Videorekordern etc.) getragen. Dieser "Einigungsboom" schwächte sich Ende 1991 ab. Mitte 1992 setzte eine scharfe Rezession ein. Die Erholung begann 1994 in allen Industrieländern durch Kostensenkung, Produktinnovation und Rückgang der Geldmarktzinsen. Das Bruttoinlandsprodukt (in Preisen von 1991) wuchs in Westdeutschland 1990 und 1991 um 5,7% und 5%, 1992 nur noch um 1,8%, 1993 ging es um 1,7% zurück, 1994 wuchs es um 2%. Im Osten wuchs es wegen des großen Rückstands 1992/93/94 um 7,8%, 7,2 und 8,5%. Der starke Beschäftigungsabbau endete Mitte 1994. 1995 setzte sich der Konjunkturaufschwung fort. Er wurde anfangs vom Wachstum der Auslands-, später auch der Binnennachfrage getragen. Diese ging vor allem vom Wohnungsbau und von den Investitionen der Unternehmen aus, weniger vom privaten Konsum. Doch die Arbeitslosigkeit blieb noch hoch. Die Arbeitslosenquote (Anteil der Arbeitslosen an den abhängigen Erwerbspersonen) stieg in Westdeutschland von 6,9% auf 9% 1990/94, in Ostdeutschland von 11,2% auf 16% 1991/94. Ende 1994 waren 5,29 Mio. Personen offen oder verdeckt arbeitslos, davon 2,25 Mio. im Osten. - 3. Fiskus: Die Bundesregierung konnte ihre Politik der achtziger Jahre, die Staatsverschuldung zu reduzieren, angesichts der Einigungslasten nicht aufrechterhalten. Der Anteil der Ausgaben der öffentlichen Haushalte am Bruttosozialprodukt (Staatsquote) war im Rahmen der Konsolidierung des Haushalts von etwas mehr als 34% 1981/82 auf 30,1% 1989 reduziert worden. Vornehmlich durch die einheitsbedingten Lasten stieg der Anteil nun rasch an: über 30,6% und 33,9% auf 34,4% 1990/91/92. Das Defizit des öffentlichen Gesamthaushalts wuchs 1993 und 1994 um je rund 137 Mrd. DM. - 4. Die Handelsbilanz ist weiterhin positiv, wie schon vor 1989, doch fallen die Überschüsse geringer aus (1993: 60.966 DM). Die Übertragungsbilanz ist weiterhin negativ (1993: – 51.682 Mio., v. a. durch stark wachsende Beiträge zum EG-Haushalt). Seit 1992 ist auch die Dienstleistungsbilanz negativ (1993: – 38.605 DM, v. a. durch Ausweitung des Reiseverkehrs), desgleichen seit 1991 die Leistungsbilanz (1993: – 33.170 Mio.).
III. Fortsetzung der europäischen Integration: Trotz der Belastung durch die Sanierung der neuen Bundesländer blieb die Weiterentwicklung der Europäischen Union (EU) eine der wichtigsten Zukunftsperspektiven der Bundesrep. D. Denn rund die Hälfte des Außenhandels wird mit den anderen EU-Staaten abgewickelt (1994: 47% des Imports und 49% des Exports). Der Maastrichter Vertrag vom Februar 1992 sieht vor, die Wirtschafts- und Währungsunion in der EU in drei Phasen zu verwirklichen. Stufe 1 umfaßte die Liberalisierung des Kapitalverkehrs bis 1993. In der nachfolgenden Stufe 2 sollen die nationalen Notenbankverfassungen konvergent werden und das neu gegründete Europäische Währungsinstitut (EWI) die nationalen Geldpolitiken koordinieren. Am Ende des Jahrhunderts sollen eine unabhängige Europäische Zentralbank und eine einheitliche Währung entstehen. Der Vertrag legt Kriterien für die Aufnahme der EU-Länder ins gemeinsame Währungssystem fest (Konvergenzkriterien). Strukturpolitik, Wahrung regionaler Interessen (Subsidiarität), Harmonisierung der Sozial- und der Umweltpolitik sollen weitere Schritte sein zur Integration der deutschen Wirtschaft in die europäische.


Literatur: Gutmann, G., Ökonomische Erfolge und Mißerfolge der deutschen Vereinigung, in: Gutmann, G./Wagner, U. (Hrsg.), Ökonomische Erfolge und Mißerfolge der deutschen Vereinigung - Eine Zwischenbilanz, Stuttgart etc. 1994; Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 1990/91 ff., Stuttgart 1990 ff.; Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1990 ff.

 

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