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Bildungsökonomie

I. Begriff und Fragestellungen: Die Bildungsökonomie wendet das theoretische, analytische und methodische Instrumentarium der Wirtschaftswissenschaften auf das Bildungssystem einer Gesellschaft an. Folglich beschreibt und analysiert sie zum einen, wie Individuen, Institutionen und die Gesellschaft insgesamt knappe Ressourcen, mit oder ohne Gebrauch von Geld, einsetzen, um verschiedene Arten von Bildung zu produzieren, d. h. die Entwicklung von Wissen, Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, von Einstellungen, moralischen Normen, Werten, Orientierungen, von Charakter und geistigem Vermögen über die Zeit vor allem durch formale Institutionen anzuregen und zu fördern, und wie zum anderen die knappen Ressourcen sowie die Ergebnisse ihrer Nutzung in Bildungsprozessen in Gegenwart und Zukunft zwischen den Menschen und Gruppen innerhalb einer Gesellschaft verteilt werden. (Vgl. Cohn/Geske 1990, S. 2).
II. Die ökonomischen Funktionen des Bildungswesens: Die Erziehungswissenschaften unterscheiden eine ganze Reihe von Funktionen, die das Bildungswesen für eine Gesellschaft erfüllt bzw. erfüllen muß, damit diese Gesellschaft Bestand haben und sich entwickeln kann. - 1. Die Sozialisations- oder Integrationsfunktion besteht darin, die Individuen in das Normen- und Wertesystem der Gesellschaft einzuüben. - 2. Über die Qualifikationsfunktion soll insbes. gewährleistet werden, daß die Individuen durch das Bildungswesen mit den für ihre Erwerbsarbeit erforderlichen Wissensbeständen, Fähigkeiten und Fertigkeiten ausgestattet werden. - 3. Die Allokationsfunktion des Bildungswesens unterstellt, daß die Qualifikationen jeweils in die Verwendungen im Beschäftigungssystem wandern, die ihren Einsatz optimieren (allokative Effizienz). - 4. Aus soziologischer Perspektive bedeutet die Allokation der Qualifikationen im Beschäftigungssystem zugleich eine soziale Selektionsfunktion. - 5. Pädagogen betonen gegenüber den sozialen und ökonomischen Funktionen des Bildungswesens seine Bildungs- oder Personalisationsfunktion für das Individuum. - 6. Die Legitimationsfunktion des Bildungswesens verweist darauf, daß Bestandserhaltung und Entwicklung der Gesellschaft nur möglich ist, wenn die Gesellschaftsmitglieder sich der Gesellschaft, d. h. dem politischen, sozialen und ökonomischen System, gegenüber loyal verhalten, wenn sie also das System als legitim erachten. Für eine bildungsökonomische Analyse sind insbes. die Qualifikations- und Allokationsfunktion des Bildungswesens relevant.
III. Bildungsökonomie im theoriegeschichtlichen Rückblick: Die Vorstellung, daß menschliche Arbeit und insbes. die Qualität der Arbeit von fundamentaler Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes ist, wurde schon sehr früh in der Politischen Ökonomie des 17. bis 19. Jahrhunderts geäußert. Dabei standen drei Fragen im Vordergrund des Interesses: 1. Welchen ökonomischen Wert haben die Anstrengungen eines Individuums bzw. der Gesellschaft, seine bzw. ihr Leistungspotential durch Bildungsprozesse zu steigern? Der Wert des Humankapitals als dem im Menschen inkorporierten Kapital wurde in den Anfängen der Politischen Ökonomie weder begrifflich noch methodisch immer sauber vom Wert des Menschen selbst getrennt. - Beweggründe: Die frühen Versuche, den Wert des Humankapitals zu messen, waren in der Regel durch den Versuch motiviert, die Verluste von Menschen durch Kriege, Katastrophen, Plagen und Wanderungen monetär zu erfassen und mögliche wirtschaftspolitische Schlußfolgerungen z. Bildungsökonomie auch für gerechte Besteuerungsprinzipien aufzuzeigen. Überdies wurde immer wieder der Versuch unternommen, den Volkswohlstand bzw. den Reichtum einer Nation zu berechnen. Die Klassiker, die die Arbeit als die Quelle des Wohlstandes ansahen, versuchten den ökonomischen Wert des Arbeitspotentials der Bevölkerung eines Landes zu berechnen. - Dabei wurden zwei unterschiedliche Bewertungsansätze entwickelt: a) Der Kostenwertansatz definiert den Wert des Humankapitals durch den Wert der Ressourcen, die verbraucht und genutzt werden, um das Humankapital zu "produzieren". - b) Der Ertragswertansatz setzt an der Kostenwertkritik an, die u. a. besagt, daß keine Verbindung besteht zwischen dem Wert der Ressourcen, die für die Entwicklung eines Menschen eingesetzt werden, und dem Marktwert dieser Person bzw. ihres entwickelten Leistungspotentials. Der Ertragswertansatz ignoriert daher den vergangenen Ressourcenaufwand und stellt auf den gegenwärtigen sowie zukünftig erwarteten Marktwert einer Arbeitskraft ab. Dabei wird der Gegenwartswert der Nettoeinkommen errechnet, die eine Person bis zum Ende ihres Arbeitslebens erwarten kann. Das erwartete Einkommen wird i. d. R. um Überlebens- und Beschäftigungswahrscheinlichkeiten korrigiert. Eine stets strittige Frage war (und ist), welcher Kalkulationszinsfuß der Abzinsung zugrunde gelegt werden soll. - 2. Welches ist der Zusammenhang zwischen Bildungsmenge und Einkommenshöhe bzw. zwischen Bildungsverteilung und Einkommensverteilung? a) Humankapitaltheoretische Produktivitätsthese: Die Vorstellung, daß Bildungsaktivitäten als Investitionen in den Menschen aufgefaßt werden können, da sie dessen Leistungsfähigkeit bzw. Produktivität steigern und demzufolge sowohl das individuelle Einkommen wie auch den Reichtum einer Gesellschaft erhöhen, daß demzufolge die Verteilung der Bildungsinvestitionen Einfluß auf die Verteilung der persönlichen Einkommen haben muß, ist in den vergangenen 200 Jahren von wenigen, dafür aber von damals bedeutenden Ökonomen geäußert worden. Schon A. Smith (1776) betrachtete die Fähigkeiten und Fertigkeiten der Arbeitnehmerschaft als die dominante Kraft für die wirtschaftliche Entwicklung, und er betrachtete das Humankapital als Teil des fixen Kapitals, dessen Bereitstellung Kosten verursachte, andererseits aber i. d. R. für den einzelnen wie für die Gesellschaft einen Ertragsüberschuß über die Kosten hinaus abwerfe. Ähnlich argumentierten Senior, J. St. Mill, H. v. Thünen und A. Marshall (vgl. Cohn/Geske 1990, S. 13-15). Eckhardt (1978, S. 18-26) verweist insbes. auf den deutschen Merkantilismus, der durch Vertreter wie J. Becher, J. Justi, J.P. Süßmilch und G. Warmund den Umstand reflektierte, daß der Staat vor allem im Bildungswesen ein Instrument für die Hebung seiner materiellen Wohlfahrt und die Stärkung seiner Macht sah. Ziel der merkantilistischen Erziehungspolitik war es primär, über die Qualität des Humankapitals die Produktivität der Bevölkerung zu steigern. Friedrich List schließlich übte Kritik an Smith's Auffassung, erziehende und ausbildende Berufe seien unproduktiv. - Die Schwäche dieser frühen Studien lag außer in der unzureichenden Datenqualität daran, daß sie beobachtete Einkommensdifferenzen zwischen Gruppen von Erwerbstätigen mit unterschiedlichen Bildungsabschlüssen ausschließlich auf die Bildungsniveauunterschiede zurückführten und nicht im Hinblick auf andere Variablen wie Intelligenz, familiäre Herkunft, Geschlecht, Alter, Branchenzugehörigkeit etc. kontrollierten. - b) Aus Gründen der Verfügbarkeit von Daten dauerte es bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, bis empirische Studien über die Einkommenswirkungen von individuellen Bildungsaktivitäten vorgelegt wurden. - 3. Welche Rolle hat bzw. sollte der Staat im Bildungswesen spielen? In der Geschichte des Bildungswesens der meisten Industrieländer gingen private oder kirchliche Bildungseinrichtungen den staatlichen voraus. Im Laufe der Entwicklung engagierten sich die staatlichen Instanzen zunehmend im Bildungswesen mit dem Ergebnis, daß "gemischte" Bildungssysteme von privaten und staatlichen Einrichtungen (USA) bis hin zu staatlichen Bildungssystemen entstanden (Deutschland, Frankreich). In der Geschichte der Politischen Ökonomie wurde dieses Phänomen kontrovers diskutiert, insofern als zwar grundsätzlich Übereinstimmung über die Notwendigkeit staatlichen Engagements im Bildungswesen, Uneinigkeit aber über die Art des Engagements bestand. - Als Gründe für staatliche Interventionen wurden genannt (vgl. Cohn/Geske 1990, S. 21-32): (1) externe Effekte, (2) staatlicher Schutz für Minoritäten, (3) Herstellung gleicher Bildungschancen, (4) Bedarf einer Gesellschaft an gemeinsamen Normen und Werten, (5) Demokratisierungsfunktion des Bildungswesens, (6) Sorge vor einem ungebildeten und daher revolutionären Proletariat, (7) Förderung wirtschaftlichen Wachstums. - Bis heute ist kontrovers geblieben, ob der Staat aus diesen Gründen die Bereitstellung des Bildungsangebotes selbst übernehmen (was historisch zum sog. staatlichen Bildungsmonopol führte) oder die Versorgung mit Bildungsangeboten privater Initiative überlassen und die unterprivilegierten Nachfragergruppen durch Subventionen, Steuervergünstigungen o. ä. Maßnahmen unterstützen soll (Bildungsfinanzierung).
IV. Das Bildungssystem als "Industrie": Das Bildungswesen bindet einen erheblichen Teil der Ressourcen eines Landes. 1. Personen: So besuchten z. Bildungsökonomie 1993 rund 9,6 Mio. Schüler die allgemeinbildenden und knapp 2,5 Mio. Schüler die berufsbildenden Schulen in Deutschland. Erzogen bzw. unterrichtet wurden sie von insgesamt ca. 360.000 Erzieherinnen bzw. von 611.000 Lehrern an allgemeinbildenden Schulen sowie von gut 104.000 Lehrern beruflichen Schulen. Hinzu kamen ca. 470.000 betriebliche Ausbilder. An den Hochschulen studierten 1993 fast 1,9 Mio. Personen, die insgesamt die Arbeitsleistungen von 394.000 Beschäftigten in Anspruch nahmen. Hinzu kommen die Millionen von Personen, die Weiter- und Erwachsenenbildungsangebote nachgefragt und dabei einer nicht bekannten Zahl von Personen Beschäftigung verschafft haben. - 2. Ausgaben: Die öffentlichen Bildungsausgaben lagen 1993 schätzungsweise bei ca. 155 Mrd. DM, die privaten Organisationen gaben für Aus- und Weiterbildung fast 67 Mrd. DM aus und die Bundesanstalt für Arbeit noch einmal gut 26 Mrd. DM für berufliche Weiterbildung. Die öffentlichen Bildungsausgaben machten 13,8% des öffentlichen Haushalts aus und 4,9% des Bruttosozialprodukts, die Ausgaben der privaten Organisationen beanspruchten 0,9% und die Ausgaben der Bundesanstalt für Arbeit 0,5% des Bruttosozialprodukts. Alle drei Ausgabengruppen zusammen beliefen sich auf knapp 7,3% des Bruttosozialprodukts. Da eine Reihe von Bildungsaktivitäten vor allem im Bereich der Weiterbildung, aber auch die privaten Bildungsausgaben nicht mitgefaßt sind, kann dieser Wert nur eine Untergrenze sein (Bildungsfinanzierung).
V. Bildung als ökonomisches Gut und die Rolle des Staates im Bildungswesen: Die Tatsache, daß Schul- und Hochschulbildung in Deutschland seitens des Staates preislos angeboten wird, verleitet die Nutzer häufig zu der irrigen Auffassung, Bildung sei kostenlos zu haben, sei also ein freies Gut. Doch in jeder Gesellschaft muß ein Teil der jeweils der Gesellschaft zur Verfügung stehenden Ressourcen aufgebracht werden, damit Bildungsleistungen bereitgestellt werden können. Bildung ist somit ein ökonomisches bzw. knappes Gut, das den Gesetzen des Wirtschaftens, der Knappheit und dem Postulat effizienten Handelns unterliegt. Umstritten ist bis heute, ob Bildung ein privates, ein öffentliches Gut, ein meritorisches Gut oder ein Mischgut ist. - 1. Bildung wäre ein privates Gut, wenn kein natürliches Monopol vorläge, wenn Käufer sich als Rivalen um dieses Gut gegenüberstünden, wenn der Erwerb des Gutes Bildung durch Käufer A den gleichzeitigen Erwerb desselben Gutes durch Käufer B ausschlösse (Ausschlußprinzip), und wenn es keine anderen Nutznießer außer den Käufern selbst gäbe (volle Nutzeninternalisierung). - 2. Bildung wird ein öffentliches Gut, wenn Marktversagen vorliegen sollte. In diesem Fall kann das Preis- und Marktsystem die effiziente Allokation nicht gewährleisten. - 3. Bildung kann als Mischgut bezeichnet werden, wenn es Merkmale sowohl eines privaten wie eines öffentlichen Gutes trägt, wenn z. Bildungsökonomie trotz Rivalitäts- und Ausschlußprinzip die Vermutung hoher externer Effekte besteht. - 4. Bildung ist ein meritorisches Gut, wenn a) der Staat die privaten Bildungspräferenzen der Bildungskunden nicht akzeptiert, sondern ihnen seine Präferenzen aufzwingt. Während das Konzept des öffentlichen Gutes die Präferenzen der Kunden nicht antastet, sondern Interventionen in den Markt nahelegt, die diesen Präferenzen mehr Geltung verschaffen soll, unterstellt das Konzept des meritorischen Gutes, daß die Kunden ihre Bildungspräferenzen entweder nicht angemessen entwickelt haben oder artikulieren können. Schulpflicht oder der Ausschluß privater Schulen stehen für dieses Konzept, das die Wahlfreiheit der Bildungskunden (insbes. der Schülereltern) mehr oder weniger stark einschränkt. b) Neben Unwissenheit von Bildungskunden kann als weitere Begründung des meritorischen aber auch des sozialen Gutscharakters von Bildung darauf verwiesen werden, daß erst Bildung Demokratie ermöglicht, daß der Preis- und Marktmechanismus keine Gleichheit der Bildungschancen herstellen, und daß ein privates Bildungssystem die Herstellung gemeinsamer Werte und Normen, die für eine Gesellschaft konstitutiv sind, nicht gewährleisten kann (vgl. Cohn/Geske 1990, S. 24-33). - 5. Die Rolle des Staates im Bildungswesen hängt wesentlich davon ab, wie stark das Marktversagen gewertet wird. Die Tatsache, daß weite Bereiche des Bildungswesens in vielen Ländern staatlich organisiert sind, hat vermutlich eher politische als ökonomische Gründe, denn das staatliche Bildungsmonopol (d. h. die Einheit von staatlicher Bildungsproduktion und -finanzierung) ist nur eine und im Vergleich zu ordnungspolitischem Handeln sowie Anbieter- oder Nachfragersubvention die schärfste Interventionslösung bei vermutetem Marktversagen. - 6. Die Public-choice-Theorie hat (Neue Politische Ökonomie) die Effizienz der staatlichen Bereitstellung von Gütern und der ihr zugrunde liegenden Entscheidungsprozesse in Zweifel gezogen und mit der These des Staatsversagens oder Regierungsversagens gekontert. Wegen Wählerunwissenheit, der Dominanz spezieller politischer Interessen, politischer Kurzsichtigkeit, fehlender Stimmen für effizientes Handeln, unpräziser Reflexion der Kundenpräferenzen, politischer Handlungs- und Entscheidungslags, sowie wegen informationeller, finanzieller und legitimatorischer Handlungsrestriktionen der Politiker könnten die politischen Steuerungsprozesse keine effiziente Ressourcenallokation im Bildungssystem bewirken. - 7. Bildung als Konsum oder Investition: Die Frage nach dem Gutscharakter von Bildung wurde vor allem in der Phase der Renaissance der Bildungsökonomie in den 60er Jahren dieses Jahrhunderts gestellt. Die Diskussion endete schließlich mit dem Ergebnis, daß weder theoretisch und schon gar nicht empirisch zwischen dem Investitions- oder Konsumcharakter zu entscheiden sei oder auch zwischen entsprechenden Anteilen der Bildungsaufwendungen. Bis heute hat sich die - willkürlich getroffene - Vorstellung gehalten, daß Bildungsaufwendungen (private wie gesellschaftliche) als Investitionen zu gelten haben, während die Konsumkomponente als kostenloses Kuppelprodukt anfällt. - 8. Makro- und Mikroökonomie der Bildung: Der Zusammenhang von Bildung und Ökonomie wird sowohl auf der Ebene der Makroökonomik als auch auf jener der Mikroökonomie bearbeitet. Während die makroökonomische Perspektive den Systembezug von Bildungswesen und dem ökonomischen System in den Blick nimmt (Bildung und Einkommensverteilung, Bildung und Wirtschaftswachstum, Bildung und Beschäftigung, Bildungsfinanzierung), wählt die mikroökonomische Perspektive das Verhalten des einzelnen Bildungsanbieters und -nachfragers als Beobachtungsgegenstand.
VI. Die Humankapitaltheorie: Die Theorie des Humankapitals hat den Gedanken theoretisch präzisiert und empirisch immer wieder getestet, daß der ökonomische und gesellschaftliche Erfolg einer Person in hohem Maße durch Eigenschaften bestimmt ist, über welche die Person verfügt, und daß diese Eigenschaften durch Bildungsprozesse (mit-) erzeugt werden. Der Theorie liegt die Investitionshypothese zugrunde (vgl. Kap. 5 g.), wonach Bildungsaktivitäten Investitionen sind, die einerseits Kosten verursachen und andererseits Erträge bzw. Nutzen abwerfen. Analyseebenen können dabei das Individuum, die Organisation, der Staat oder die Gesellschaft als Investoren sein; als Analysebereiche kommen die Familie (Familienökonomie), der Elementarbereich, das Schulsystem (getrennt nach Schulstufen und Arten), die Hochschulen, die berufliche Aus- und Weiterbildung, die Erwachsenenbildung in Frage. Allerdings läßt sich das Humankapitalkonzept nicht auf Bildungsinvestitionen einschränken, sondern es schließt alle Aktivitäten ein, welche die Qualität und die Leistungsfähigkeit der Erwerbspersonen erhöhen und das Niveau des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfolges zu steigern in Aussicht stellen: also auch Migration sowie Verbesserungen der Ernährung und des Gesundheitszustandes der Erwerbsbevölkerung. - 1. Die Produktivitätsthese: Die Humankapitaltheorie fußt auf der These, daß Bildungsaktivitäten das Arbeitspotential von Erwerbspersonen so verändern, daß deren Arbeitsqualität und -leistung steigt. Damit steigt ihre Leistung pro Stunde, d. h. ihre (Arbeits-) Produktivität. Die bildungsbedingt höhere Produktivität wird der Grenzproduktivitätstheorie zufolge im Arbeitsmarkt durch höheren Verdienst (Lohn, Gehalt) entgolten. Damit behauptet die Humankapitaltheorie a) eine kausale Wirkungskette, die sich von den Bildungsaktivitäten über die gestiegene Produktivität zu höherem Einkommen erstreckt. - b) Sie bietet zugleich (zumindest partiell) Erklärungen für folgende Phänomene an: erstens für die Funktionsweise des Arbeitsmarktes (Arbeitsmarkttheorien) im Falle heterogener Arbeit, zweitens für die Höhe des individuellen Verdienstes (die auf den Umfang der individuellen Bildungsinvestition zurückgeführt wird), drittens für die Verteilung der persönlichen Einkommen (die mit der Verteilung der Bildungsinvestitionen zwischen den Gesellschaftsmitgliedern erklärt wird), viertens für Niveau und Tempo des Wirtschaftswachstums, fünftens für Bildungsfinanzierungsstrukturen und sechstens für Wohlstandsabstände zwischen Gesellschaften. - c) Zugleich hält die Theorie eine im Prinzip einfache Lösung bereit, wenn unbefriedigende Zustände wie Ungleichheit der Einkommensverteilung, zu niedriges Wirtschaftswachstum oder zu starker Wohlstandsabstand empfunden werden: Steigerung der Investitionen in Bildung und Verringerung ihrer Streuung. - 2. Humanressourcen: Der Begriff der Humanressourcen verweist darauf, daß nicht alles Wissen, das in einer Gesellschaft bereit steht und neu produziert wird, in Form von Humankapital, d. h. also inkorporiert in menschliches Arbeitsvermögen, zur Verfügung steht. Machlup (1987) weist auf diesen Sachverhalt hin und auf die Gefahr, mit dem verengten Blick auf das Humankapital die Rolle der Produktion, Allokation und Verteilung von Wissen in einer Gesellschaft, aber auch zwischen Gesellschaften zu ignorieren. - 3. Humankapitalbestand, -bildung und -verschleiß: Empirische Analysen des Humankapitals erfordern seine Meßbarkeit. Dabei geht es nicht darum, den Wert von Menschen ökonomisch zu taxieren, sondern den ökonomischen Wert der in den Menschen korporierten Wissens-, Fähigkeits-, Fertigkeits- und Orientierungsbestände (Wert des Humankapitalsbestandes oder -stocks) oder -zuwächse (Wert der Humankapitalinvestitionen) zu erfassen. - Prinzipiell sind sowohl bei der Bestands- wie bei der Stromanalyse drei Ansätze anwendbar: (1) Erfassung der absolvierten Bildungsjahre (pro Erwerbsperson bzw. pro Einwohner) und Addition über alle Beobachtungseinheiten ohne ökonomische Bewertung; dies setzt die Homogenität jedes Bildungsjahres voraus; (2) Bewertung der Bildungsjahre mit ihren Kosten (Kostenwertansatz; s. o.); (3) Bewertung der Bildungsjahre mit ihrem Ertragswert (Ertragswertansatz; s. o.). - Ein grundsätzliches Problem der Humankapitalstockmessung besteht darin, daß der Bestand zu seinem Bruttowert erfaßt wird, d. h. der Entwertung von Teilen des Bestandes durch Verschleiß bzw. Veralterung wird bislang nicht über Abschreibungen Rechnung getragen. - 4. Bildungskosten: Bildungsaktivitäten verursachen eine Fülle von unterschiedlichen Werttransaktionen, die z. T. beobachtbar, z. T. kalkulatorischer Art sind. Es gilt dabei, in Anlehnung an die betriebswirtschaftliche Theorie der Werteströme zwischen Auszahlungen, Ausgaben, Aufwand und Kosten zu unterscheiden (vgl. dazu Timmermann 1994). - Von besonderer Relevanz ist dabei die Differenzierung zwischen Bildungsausgaben und Bildungskosten, da die Angaben über Ressourcenbedarfe im öffentlichen Bildungssystem in der Regel Ausgabenangaben sind, während der privatwirtschaftliche Bildungssektor Kostengrößen ausweist, was die direkte Vergleichbarkeit entsprechender Statistiken verbietet. Bildungsausgaben bezeichnen den Wert der für Bildungsaktivitäten beschafften Ressourcen, Bildungskosten hingegen den bewerteten Verzehr von Ressourcen zur Erstellung von Bildungsleistungen. Bildungskosten umfassen nicht nur die laufenden direkten Ausgaben plus Abschreibungen, sondern alle Opportunitätskosten. Letztere entstehen durch den Wert der Zeit, welche die Lernenden aufbringen und in der sie auf die Erzielung von Einkommen verzichten. - 5. Bildungserträge und Bildungsnutzen: a) Sie erfassen direkte und indirekte Wirkungen von Bildungsaktivitäten zum einen bei Individuen (individueller Nutzen bzw. Erträge) und bei Institutionen (institutionelle Erträge), zum anderen beim Staat und bei Dritten bzw. in der Gesellschaft insgesamt (soziale bzw. gesellschaftliche Erträge) in Gegenwart und Zukunft. - Vgl. auch Bildungserträge und -nutzen. - b) Bildungsnutzen bzw. -erträge können in einer dreidimensionalen Matrix beschrieben werden: erstens nach Ertragsarten, zweitens nach Bildungsbereichen und drittens nach Empfängerebene. Als Ertragsarten werden in der Regel monetäre und nicht monetär meßbare Erträge unterschieden. Nach Bildungsbereichen kann (analog zur Erfassung der Bildungskosten) differenziert werden zwischen Elementar-, Schul-, Berufs-, Hochschul- und Weiterbildung. Empfänger von Bildungserträgen können sein die Lernenden, Organisationen, der Staat, Dritte und die Gesellschaft insgesamt. - 6. Bildung und Wirtschaftswachstum: a) Allgemein: Die Frage nach den wachstumsfördernden Wirkungen von Bildungsinvestitionen stand am Beginn der Renaissance der Bildungsökonomie gegen Ende der 50er Jahre. Eine Reihe früher empirischer Studien über die Determinanten des Wirtschaftswachstums stellten kritisch fest, daß ein erheblicher Anteil des Wachstums durch die klassischen Inputs (Land, Arbeit, Sachkapital) nicht erklärt werden konnte (Wachstumstheorie). Dies wurde darauf zurückgeführt, daß nur die Faktormengen und nicht deren Qualität in der Produktionsfunktion berücksichtigt worden waren (vgl. Cohn/Geske 1990, S. 134 ff). Es wuchs sehr bald die Überzeugung, daß sowohl die Qualität des Realkapitals als vor allem die Güte des Faktors Arbeit sowie deren Interaktion in maßgeblicher Weise wachstumsfördernd seien. - b) Schultz (1961) und Denison (1964) kamen in empirischen Schätzungen zu dem Ergebnis, daß der Wachstumsbeitrag des Humankapitals in den USA zwischen 1929 und und 1957 (1956) in einer Größenordnung von 36% bis 70% (Schultz) bzw. 42% (Denison) der Wachstumsrate gelegen habe. Cohn/ Geske zitieren eine Reihe neuerer Studien, die zu deutlich geringeren, aber immer noch beachtlichen Wachstumsbeiträgen des Bildungswesens gelangen (ebenda 1990, S. 150 ff.). - c) Eine generelle Schwäche der älteren Wachstumsmodelle lag in der Exogenität des Humankapitals und der mangelnden Unterscheidung zwischen den Investitionen in Humankapital, der Produktion von Wissen und der Transformation des neuen Wissens durch Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten. Die neue Wachstumstheorie versucht in ihren Modellen, die Akkumulation von Humankapital zu endogenisieren und die Forschungs- und Entwicklungsintensität daran zu koppeln (vgl. Romer 1990, Stokey 1991). Empirische Tests der neuen Ansätze stehen allerdings noch aus. - 7. Bildung und Einkommensverteilung: Aus der humankapitaltheoretischen These, die individuelle Bildungsinvestition schlage sich über die höhere Produktivität in gestiegenem Einkommen des Investors nieder, kann die weitere These abgeleitet werden, daß die Verteilung der persönlichen Einkommen (personelle Einkommensverteilung) auf die Verteilung der Bildungsinvestitionen in einer Bevölkerung zurückgeführt werden kann. Umgekehrt kann der Schluß gezogen werden, daß eine als ungleich empfundene Einkommensverteilung über die Angleichung der individuellen Bildungsinvestitionen nivelliert werden kann. In der Tat war die Bildungspolitik in einer Reihe von Ländern an diesem Ziel des Abbaus von Ungleichheit orientiert. Das paradoxe Ergebnis ist, daß trotz der Verringerung der Bildungsungleichheit die Einkommensungleichheit über einen langen Zeitraum relativ konstant geblieben ist (vgl. Chiswick/ Chiswick 1987, S. 260 f.).
VII. Kritik der Humankapitaltheorie und Theorierivalen: Im Laufe der 70er Jahre hat sich eine ausdifferenzierende Kritik an der Humankapitaltheorie etabliert, die an der Produktivitätsthese, aber auch an der impliziten Arbeitsmarkttheorie ansetzt (vgl. Cohn/Geske 1990, S. 58 ff.). - 1. Die Filterhypothese: In ihrer Grundfigur bezweifelt die Filtertheorie den produktivitätssteigernden Effekt von Bildung als das Verbindungselement zwischen Bildung und höherem Einkommen (Filtertheorie). Sie setzt an die Stelle von Produktivität als Verbindungsglied den Erwerb eines Zertifikats als Signal für Leistungsfähigkeit, die das Individuum bereits in das Bildungssystem mit hineinbringt. Folglich hat Bildungserfolg und der Erwerb von Wissen keinen nachhaltigen Effekt auf die Produktivität, aber das Zertifikat signalisiert dem Beschäftiger die gewünschte Produktivität. Die empirische Korrelation zwischen Bildung und Einkommen ist somit keine Bestätigung der Humankapitaltheorie. Ein Gegenargument lautet, daß die Dauerhaftigkeit der Beziehung zwischen Bildung und Einkommen über das Arbeitsleben hinweg nur über die Produktivitätsthese zu erklären sei. Im übrigen sei das Bildungswesen als Filter viel zu teuer, die bloße Filterfunktion könne billiger und einfacher gewährleistet werden. Eine Reihe von empirischen Tests haben die Kontroverse nicht abschließend klären können. - 2. Das Arbeitsplatzwettbewerbsmodell: Dieses Modell von Thurow (1972) verbindet die Filterthese mit der Theorie interner Arbeitsmärkte. Es geht davon aus, daß die Absolventen des Bildungssystems im Arbeitsmarkt nicht um Löhne konkurrieren, sondern um Eintrittspositionen in spätere Karriereleitern. In diesem Allokationsprozeß von Arbeitskräften auf Arbeitsplätze ist es nicht die Funktion von Bildung, Fertigkeiten, höhere Produktivität und höheres Einkommen auf die Arbeitskraft zu übertragen, sondern ihm via Zertifikat einen bestimmten Status zuzuerkennen und seine Trainierbarkeit zu signalisieren. Die Produktivität und damit das Einkommen ist an den Arbeitsplatz gebunden. Das Arbeitseinkommen ist somit abhängig von der relativen Position der Personen in der Arbeitskräfteschlange an den Eintrittspforten von Organisationen und ebenso von der Verteilung der Arbeitsgelegenheiten im Beschäftigungssystem. Arbeitskräfte in der Warteschlange konkurrieren miteinander um Arbeitsplätze mit vorgegebenen Qualifikationsanforderungen, und ihre Wettbewerbsposition in der Warteschlange hängt einerseits ab von Hintergrundmerkmalen wie Geschlecht, Rasse, Herkunft, vorgängige Kenntnisse und Erfahrungen, Wissen und Bildungsabschluß, andererseits von den Rekrutierungsstrategien der Betriebe. Es wird ferner angenommen, daß Fertigkeiten informell durch Training am Arbeitsplatz erlernt werden, und daß die Hintergrundmerkmale dem Betrieb Informationen signalisieren über die Trainingskosten. Da die Betriebe ihre Trainingskosten minimieren wollen, sind die Beschäftigungs- und Einkommenschancen der Arbeitskräfte wesentlich durch ihre Position in der Warteschlange bestimmt. Der Arbeitsmarkt ist modelliert als ein Markt, der trainierbare Individuen und Trainingsleitern bzw. Karriereketten einander zuweist. Bildung ist eine Selektionsvariable neben anderen. Die Veränderung der Verteilung der Bildungszertifikate kann zwar die Struktur der Warteschlange verändern, wird aber nicht notwendigerweise die Einkommensverteilung tangieren. Rationale Arbeitskräfte werden versuchen, ihre Position in der Schlange durch höheren Bildungsnachweis zu verbessern und einen vertikalen Verdrängungsprozeß auslösen, der in eine Bildungsspirale münden wird. Bildungsinvestitionen werden dann die Einkommensrelationen kaum verschieben, sie werden aber als Defensivstrategie immer notwendiger, um den gewünschten Marktanteil zu behaupten. - 3. Hypothese der Arbeitsmarktsegmentation: Diese Hypothese bezweifelt die implizite Annahme der Humankapitaltheorie, daß der Austausch von Humankapital im Arbeitsmarkt dem Gesetz relativer Knappheit folgt (Segmentationstheorien). Vielmehr treffe dies nur partiell zu, da der Arbeitsmarkt in stabile, voneinander abgeschottete Segmente unterteilt sei, zwischen denen Arbeitskräftemobilität außer Kraft gesetzt sei. a) Die bekannteste Version ist die Theorie des dualen Arbeitsmarkts, die ein primäres und ein sekundäres Segment unterscheidet, zwischen denen kaum Mobilitätsbeziehungen - und wenn, dann Abwärtsbewegungen - existieren. Das primäre Segment besteht aus Arbeitskräften, denen Ausbildungs- und Arbeitsplätze zugewiesen sind, die stabile Beschäftigung, Einkommen und Aufstiegsperspektiven bieten in Abhängigkeit des Bildungsstandes der Arbeitskräfte. Das sekundäre Segment umfaßt Arbeitskräfte, die in der Regel befristet beschäftigt werden, denen weder Ausbildungs-, Weiterbildungs- noch Aufstiegsperspektiven geboten werden unabhängig von ihrem Bildungsstand. Die Einkommen sind relativ niedrig, die Beschäftigung instabil, die Arbeitsbedingungen anspruchslos. Während im primären Segment die Verbindung zwischen Bildung und Einkommen weniger durch Produktivität als durch andere Arbeitskrafteigenschaften bestimmt wird, ist im sekundären Segment die Koppelung von Bildung und Einkommen ganz zerstört. Für die Arbeitskräfte in diesem Segment können auch kompensatorische Bildungs- oder Trainingsprogramme kaum etwas an ihrer deprivilegierten Position ändern. Die empirischen Tests der Segmentationsthese waren bis heute nicht so überzeugend, daß die Humankapitaltheorie verworfen werden müßte, sie waren aber auch nicht so schwach, daß die Segmentationsthese obsolet wäre. Vielmehr besteht die Rivalität weiter fort. b) Modifikation: In Deutschland hat Sengenberger (1978) die duale Segmentationstheorie modifiziert, indem er das primäre Segment untergliedert hat in ein berufsfachliches und in ein betriebsspezifisches Segment. Beide sind den Modellen allgemeiner bzw. spezifischer Bildung von Becker (1975) nachempfunden. Das sekundäre Segment heißt dort Jedermannsarbeitsmarkt. In diesem Modell wird interessanterweise mit Hilfe der Humankapitaltheorie erklärt, warum die Mobilität zwischen den beiden primären Segmenten behindert ist und nicht durch relative Lohnbewegungen befördert werden kann. Ein harter empirischer Test dieser Theorie steht noch aus. - 4. Die radikale Theorie: Diese Theorie geht davon aus, daß Vermögen und Einkommen in westlichen (kapitalistischen) Gesellschaften sehr ungleich verteilt sind, und daß das private Eigentum insbes. an den Unternehmen den Eigentümern oder Managern erhebliche ökonomische, gesellschaftliche und politische Macht verleiht, die erhalten und vermehrt werden soll. Unternehmerische Strategien der Gestaltung der Arbeitsorganisation und der Personalrekrutierung haben danach die Arbeitnehmerschaft zunehmend stratifiziert und sozial kontrolliert. Das Bildungssystem reflektiere strukturell und inhaltlich, insbes. über seine Sozialisationsfunktion durch den heimlichen Lehrplan, diese soziale Hierarchie und reproduziere die gesellschaftliche Ungleichheit von Generation zu Generation. Die Korrelation zwischen Bildung und Einkommen wird bestätigt, aber durch die sozialisatorische (nicht durch die qualifikatorische) Funktion des Bildungssystems erklärt, dessen Aufgabe in der Vertiefung der bereits im sozialen Milieu erzeugten Einstellungen und Orientierungen gesehen wird. Die eigentliche Hintergrundvariable für diesen Zusammenhang ist die schichtenspezifische Herkunft. Die Einkommensungleichheit reflektiert die soziale Ungleichheit des Beschäftigungssystems. Das Bildungssystem hat die Funktion, diese Ungleichheit zu reproduzieren und zugleich durch den meritokratischen Schein die Gerechtigkeitsillusion aufrechtzuerhalten (Bowles/Gintis 1976). - 5. Bildungsexpansion und Bedarf der Gesellschaft an sozialer Ungleichheit: Teichler u. a. (1976) haben Thurows Idee der Bildungsspirale aufgegriffen und mit der These des Bedarfs an Ungleichheit konfrontiert. Auch sie sehen die Einkommensungleichheit als Indikator systemnotwendiger sozialer Ungleichheit, die durch die Bildungsspirale an Legitimationskraft verlieren müsse. - 6. Chancen für eine Synthese? Blaug (1985) sieht die Kontroversen zwischen den verschiedenen Theorien als noch nicht entschieden an. Er betrachtet sie weniger als Rivalen, sondern als komplementäre Ansätze, die in ihrer Gesamtheit die Debatten um Bildung und ökonomischen Erfolg erheblich erweitert und belebt hätten. Insofern ist die Richtung anstehender Diskussionen zur Zeit offen.
VIII. Abstimmung von Bildungs- und Beschäftigungssystem: 1. Entwicklung: Nachdem die Humankapitaltheorie sowie die Debatte mit ihren Rivalen seit Ende der 80er Jahre zu stagnieren begann, wandte sich die bildungsökonomische Diskussion stärker den Prozessen der Abstimmung von Bildungs- und Beschäftigungssystem zu. Auslöser waren die in der öffentlichen Wahrnehmung gestiegenen Ungleichgewichte im Ausbildungs- und Hochschulmarkt an Schwelle I sowie im Arbeitsmarkt an Schwelle II (vgl. dazu im einzelnen Strikker/Timmermann 1986 sowie Timmermann 1988). - 2. Erkenntnisziel ist es, das jeweilige Angebots- und Nachfrageverhalten an den Systemübergängen theoretisch wie empirisch genauer zu analysieren im Hinblick darauf, welches die Gründe für Ungleichgewichte sind, ob immanente Kräfte zum Abbau der Ungleichgewichte identifizierbar sind und welche Steuerungsmöglichkeiten dem Staat dabei offenstehen. Das Verhalten beider Systeme zueinander kann theoretisch durch die Koppelungs-, Entkoppelungs- oder Interdependenzthese beschrieben werden. - 3. Beurteilung: Es liegen erst in Ansätzen Erklärungsangebote der Abstimmungsprozesse vor. Eine Theorie der Abstimmung von Bildungs- und Beschäftigungssystem ist erst noch zu entwickeln.
IX. Mikroökonomie des Bildungswesens: Sie betrachtet das Verhalten repräsentativer Akteure im Bildungswesen. Drei Fragestellungen haben besondere Aufmerksamkeit erfahren. - 1. Die individuelle Bildungsnachfrage und deren Einflußgrößen sind für die Bildungspolitik und Bildungsplanung von Bedeutung, insofern als in einer freien Bildungs- und Wirtschaftsgesellschaft die individuelle Nachfrage nach Bildung den Bedarf an Bildungskapazitäten und an Ressourcen für das Bildungssystem wesentlich bestimmt. Eine Theorie der Bildungsnachfrage soll Aufschluß geben über die Determinanten der Nachfrage, so daß bei Kenntnis der Entwicklungsdynamik der Determinanten die Bildungsnachfrage prognostiziert werden könnte (Psacharopoulos, 1987, S. 356 ff.). Die Theorie der Bildungsnachfrage ist an den Verhaltensdeterminanten interessiert. Als Variablen mit Einfluß auf das Bildungswahlverhalten sind identifiziert worden: a) Merkmale der Lernenden: Das Geschlecht, die intellektuellen Fähigkeiten, die schulischen Leistungen und Leistungserfolge, die Interessen, Neigungen und selbst gesetzten Bildungsansprüche. - b) Merkmale der persönlichen Umwelt: Die persönliche Umwelt bzw. soziale Herkunft der Lernenden, die Gruppe der Gleichaltrigen (die meist statushomogen ist) und das gesellschaftliche Umfeld der Schulen. - c) Merkmale des Bildungssysystems: Die räumliche Lage von Bildungseinrichtungen, ihre Reputation, ihr Lehrangebot und Fächerspektrum, die erreichbaren Abschlüsse, ihre Selektivität, ihre Zulassungs- und Selektionsprozeduren und nicht zuletzt die Höhe der Gebühren. - d) Determinanten aus dem Beschäftigungssystem: Erwartete Einkommen, Beschäftigungschancen (in den verschiedenen Berufsfeldern), Beschäftigungsrisiken (Dauer, Stabilität, Klima) und die Bildungsrenditen unterschiedlicher Bildungsgänge. - Während die wenigen empirischen Überprüfungen der Nachfragehypothesen keine überzeugenden Bestätigungen erbracht haben, scheint die These vertretbar, daß die Nachfrage nach schulischer Bildung eher von persönlichen Merkmalen und persönlichen Umfeldvariablen beeinflußt wird, während die Nachfrage nach beruflicher und hochschulischer Bildung vergleichsweise stärker durch die Signale aus dem Beschäftigungssystem bestimmt wird. - 2. Die Ausbildungsentscheidung von Unternehmen: a) Interne versus externe Rekrutierung: In allen Ländern findet in Unternehmen berufliches Training statt, allerdings in sehr unterschiedlichen Formen, denen als Alternative die externe Rekrutierung vom Arbeitsmarkt gegenübersteht. - b) Ein Unternehmen wird seinen Arbeitskräftenachwuchs unter bestimmten Bedingungen selber ausbilden. Becker (1975) hat eine Antwort gegeben, indem er zwischen allgemeiner und spezifischer betrieblicher Bildung unterschied und allgemeine betriebliche Bildung als marktgängige, am Arbeitsmarkt frei verwertbare Bildung definierte, während er spezifische betriebliche Bildung dadurch charakterisierte, daß sie nicht marktgängig sei: Für den Fall allgemeiner betrieblicher Bildung ist das betriebliche Interesse an Ausbildung nicht existent, es sei denn, die auszubildende Person selbst trägt die Ausbildungskosten, da sie auch in den Genuß des höheren Ertrages (höhere Grenzproduktivität gleich höheres Einkommen) kommt. Der Grund für das betriebliche Desinteresse liegt in dem Risiko der Nichtinternalisierbarkeit der Erträge, da die ausgebildete Person jederzeit den Betrieb wechseln kann. Im Falle spezifischer betrieblicher Bildung besteht ein beiderseitiges Interesse an einem längeren Verbleib der ausgebildeten Person im Betrieb, weil nur in diesem Falle die höheren ausbildungsbedingten Erträge realisiert werden können. Becker zufolge teilen sich Betrieb und Ausgebildeter die Ausbildungskosten und -erträge, so daß für den Betrieb ein Anreiz besteht, Personen (betriebsspezifisch) auszubilden. - 3. Die Schule als Bildungsbetrieb: a) Vor allem in der amerikanischen Bildungsökonomie ist in vielen Studien versucht worden, den schulischen Bildungsprozeß über eine Bildungsproduktionsfunktion zu modellieren und den Einfluß der Inputs auf den schulischen Output und darüber die interne Effizienz von Schulen empirisch zu schätzen (vgl. Cohn/Geske 1990, S. 159 ff.). - b) In diese Bildungsproduktionsfunktionen sind z. T. eine Fülle von Inputvariablen eingegangen, die allerdings eine Reihe von Schwierigkeiten aufgeworfen haben. Die schulischen Inputs werden i. d. R. nach menschlichen und physischen Inputs unterschieden. - c) Fast alle diese Inputs werfen Probleme der Operationalisierung auf, vor allem, wenn es um deren qualitative Dimensionen geht. Ein weiteres Problem besteht darin, daß nichtschulische Inputs aus dem sozialen Umfeld der Schüler ebenfalls das schulische Lernverhalten der Schüler und damit den Schuloutput beeinflussen. Von besonderer Bedeutung ist dabei auch die Anfangsausstattung der Schüler mit Gelerntem, über das sie beim Eintritt in den Bildungsprozeß bereits verfügen. Wie soll diese Anfangsausstattung operationalisiert und gemessen werden? Ein zweites Bündel von Problemen betrifft die Interaktion der Inputs untereinander und die Art ihrer vermuteten Wirkungen auf den Output: Addieren sich die Einzelwirkungen oder sind sie multiplikativ verknüpft? Sind die Wirkungen unabhängig vom Inputniveau konstant, steigern oder verringern sie ihre Wirkkraft, wenn die Inputs wachsen? Ein drittes Problembündel bezieht sich auf die Outputseite. Um welche Outputs oder Outputdimension handelt es sich und wie sind sie zu operationalisieren? Geht es um fundamentale allgemeine Fertigkeiten (Lesen, Rechnen, Schreiben) oder um beruflich relevantes Wissen oder um nichtkognitive Outputs wie Kreativität, Einstellungen, Sozialverhalten oder gar um Schlüsselqualifikationen? Wenn es um unterschiedliche Outputs geht: Sind sie unabhängig voneinander oder interagieren sie miteinander? - d) Trotz dieser Vielzahl von Operationalisierungs-, Spezifikations- und Meßproblemen sind empirische Schätzungen versucht worden, die in einem Teilergebnis durchweg übereinstimmten, daß nämlich die größte Wirkung auf den (kognitiven) Schuloutput von den Lehrerpersönlichkeiten ausgeht. Die Bescheidenheit der Schätzergebnisse sowie die Unzufriedenheit mit dem Umstand, daß die Unterrichtsprozesse selbst eine black box blieben, haben dazu geführt, daß die Schulen und die Lehr-Lern-Prozesse immer stärker aus organisationstheoretischer Perspektive betrachtet wurden, so daß Einsichten für ein Handeln, das Schule und Unterricht in Richtung auf eine höhere interne und externe Effizienz entwickeln hilft, heute vor allem aus Ansätzen der Organisationsentwicklung gewonnen werden.
Literatur: Bardeleben, R. von/Beicht, U./Hozschuh, J., Individuelle Kosten und Nutzen der beruflichen Weiterbildung, in: Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis 23, Heft 5 (1994), S. 9-17; Becker, G., Human Capital - A Theoretical and Empirical Analysis with Special Reference to Education, 2. Aufl., Chicago 1975; Blaug, M., The Empirical Status of Human Capital Theory: A slightly jaundiced Survey, in: Journal of Economic Literature, 14 (1976), S. 827-855; Blaug, M., Where are we now in the Economics of Education? in: Economics of Education Review, 2 (1985), S. 209-231; Bowles, S./Gintis, H., Schooling in Capitalist America: Educational Reform and the Contradictions of Economic Life, New York 1976; Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie, Grund- und Strukturdaten 1994/95, Bonn 1994; Chiswick, Bildungsökonomie R./Chiswick, C. U., Income Distribution and Education, in: Psacharopoulos 1987, S. 255-261; Cohn, E./Geske, T. G., Economics of Education, 3. Aufl., Oxford u. a. 1990; Denison, E. F., Measuring the Contribution of Education (and the Residual) to Economic Growth, in: OECD (Hrsg.), The Residual Factor and Economic Growth, Paris 1964, S. 13-55; Doeringer, P. B./Piore, M. J., Internal Labor Markets and Manpower Analysis, Lexington 1971; Eckhardt, W., Bildungsökonomie. Entwicklung - Modelle - Perspektiven, Bad Homburg v. d. H., Zürich, Berlin 1978; Gorseline, D. E., The Effect of Schooling Upon Income, Bloomington 1932; Hanushek, E. A., Educational Production Functions, in: Psacharopoulos 1987, S. 33-42; Machlup, F., Knowledge Industries and Knowledge Occupations, in: Psacharopoulos 1987, S. 14-21; Psacharopoulos, G. (Hrsg.), Economics of Education. Research and Studies, Oxford u. a. 1987; Romer, P. M., Endogenous technological Change, in: Journal of Political Economy, 98 (1990), S. 71-102; Teichler, U./Hartung, D./Nuthmann, R., Hochschulexpansion und Bedarf der Gesellschaft, Stuttgart 1976; Thurow, L.C., Education and Economic Inequality, in: The Public Interest 28 (1972), S. 66-81; Timmermann, D., Die Abstimmung von Bildungs- und Beschäftigungssystem: ein Systematisierungsversuch, in: Bodenhöfer, H.-J. (Hrsg.), Bildung, Beruf, Arbeitsmarkt, Berlin 1988, S. 25-82; Schultz, Th., Education and Economic Growth, in: Nelson, H. (Hrsg.), Social Focus Influencing American Education. The Sixtieth Yearbook of the National Society for the Study of Education. Part I, Chicago 1961, S. 46-88; Stokey, N.L., Human Capital, Product Quality, and Growth, in: Quarterly Journal of Economics, 105 (1991), S. 587-616; Strikker, F./Timmermann, D., Bildung, Ausbildung und was dann? Feine Signale und harte Fakten. Überlegungen zur Abstimmung von Bildungs- und Beschäftigungssystem, in: Rammert, W./Timmermann, D. (Hrsg.), Kritik der Bildungsökonomie als Sozialwissenschaft, Mehrwert 27, Bremen 1986, S. 110-181; Walsh, J. R., Capital Concept Applied to Man, in: Quarterly Journal of Economics, 49 (1935), S. 255-285; Weißhuhn, G., Bildung und Einkommen in der Bundesrepublik Deutschland. Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 80, Nürnberg 1983, S. 11-164.

 

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