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Versicherungswissenschaft

I. Begriff: 1. Grundlagen: Versicherungswissenschaft ist eine interdisziplinäre Wissenschaft, die sich in Forschung und Lehre mit den unterschiedlichen Aspekten und Teilbereichen des Phänomens Versichern als ihrem Erkenntnisobjekt auseinandersetzt und dabei insbesondere mit dem Wirtschaftsgut Versicherung und den Organisationen der Individual- und Sozialversicherung, den privaten Versicherungsunternehmen und den Sozialversicherungsträgern, die die Dienstleistung Versicherungsschutz erstellen. Bisher wurde die Versicherungswissenschaft als multidisziplinäre oder "Sammelwissenschaft" aufgefaßt. Die wirtschaftlichen, rechtlichen, mathematischen, technischen, medizinischen, sozialen und psychologischen Aspekte der Versicherung wurden relativ isoliert in versicherungswissenschaftlichen Teildisziplinen wie z.B. Versicherungsrecht, Versicherungsbetriebslehre, Versicherungsmathematik oder Versicherungsmedizin untersucht. In der neueren versicherungswirtschaftlichen Forschung stehen hingegen verstärkt die Zusammenhänge und Schnittstellen der einzelnen Teildisziplinen im Vordergrund. - 2. Einordnung: Versicherung wird heute als ein Teilgebiet der Risikopolitik (Risk Management) der privaten Haushalte und Unternehmen aufgefaßt. Versicherung ist somit eine der risikopolitischen Maßnahmen (Instrumente), die eingesetzt werden, um sich vor den finanziellen Folgen ungeplanter Ereignisse zu schützen. Entweder meidet man Risiken oder man ergreift Maßnahmen der Risikominderung (z.B. Brandmauer, Sicherheitsgurt, Co-Pilot, Sprinkleranlage) oder man bildet Risikoreserven, mit denen manifestierte Abweichungen von geplanten Zielen, die man in der Versicherungswissenschaft als versicherte Schäden bezeichnet, ersetzt werden können. Versicherung ist demnach die gemeinschaftliche (kollektive) Bildung von finanziellen Reserven. Sie wird durch Unternehmen der privaten Versicherungswirtschaft oder durch Träger der Sozialversicherung organisiert, um den aus einem Versicherungsfall resultierenden Kapitalbedarf zu decken. Das Kapital wird eingesetzt, damit durch die Restitution der versicherten Schäden die geplanten Ziele der Wirtschaftssubjekte dennoch erreicht werden können. Die Versicherungswissenschaft beschäftigt sich nicht nur mit der allgemeinen Beschreibung und Quantifizierung von versicherten Schäden, sondern versucht diese auch durch die Erforschung von Ursachen-Wirkungs-Zusammenhängen zu erklären und zu prognostizieren. Zur Definition und Modellierung der Schadenursachensysteme durch die Begriffe versicherte Gefahren, versicherter Bereich, versicherte Schäden und die aus dem Schadenursachensystem resultierenden Wahrscheinlichkeitsverteilungen der Schadenzahl, der Schadensumme und des Gesamtschadens werden Erkenntnisse der für die einzelnen Objektbereiche relevanten Wissenschaften, wie z.B. Physik, Chemie, Medizin und Psychologie herangezogen und in die vertragsrechtliche Form der Allgemeinen Versicherungsbedingungen gebracht. Bevor der Versicherungsvertrag geschlossen werden kann, muß in Zusammenarbeit von Ökonomen und Mathematikern das zu übernehmende finanzielle Risiko quantifiziert und bewertet werden. Die Kalkulation des zu versichernden Risikos und die Entscheidung, ob das zu versichernde Risiko in einen Bestand aufgenommen werden kann, erfordern Entscheidungen, die nur in Kooperation von Juristen, Mathematikern und Ökonomen getroffen werden können. Bei der weiteren Aggregation von Versicherungsbeständen im Versicherungsunternehmen und bei der möglichen Diversifikation der übernommenen Risiken auf Rückversicherungsunternehmen fallen weitere interdisziplinäre Tätigkeiten an. Ferner beschäftigt sich die Versicherungswissenschaft mit der verschiedene Disziplinen tangierenden grundsätzlichen Frage der Organisation von Versicherungsunternehmen und Versicherungsträgern sowie der in einer sozialen Marktwirtschaft notwendigen Grundsatzentscheidung, welche Risiken der privaten Haushalte versichert sein müssen, welche nur in Form der Sozialversicherung und welche privat versichert werden können. Die Diskussion über die Lösungsmöglichkeiten dieser eminent politischen Fragestellung ist älter als die Versicherungswissenschaft. - 3. Entwicklung: Der Beginn der Versicherungswissenschaft als multidiziplinäre Wissenschaft kann mit dem 1899 in Berlin gegründeten Deutschen Verein für Versicherungswissenschaft datiert werden. Das erste deutsche Universitätsinstitut für Versicherungswissenschaft wurde 1895 in Göttingen eröffnet. Als Vorläufer sind das 1849 in London gegründete Institute of Actuaries sowie die seit 1895 in verschiedenen Städten der Welt stattfindenden internationalen Aktuarkongresse zu nennen. Der bedeutendste Förderer der deutschen Versicherungswissenschaft war Professor Dr. phil. Dr. jur. Alfred Manes (1877 - 1963), langjähriger Generalseketär des Deutschen Vereins für Versicherungswissenschaften. Die Notwendigkeit, den Charakter der Versicherungswissenschaft in eine interdisziplinäre Wissenschaft zu verändern, wird erst in jüngster Zeit deutlich, da eine weitere wissenschaftliche Spezialisierung ohne den Versuch einer Synthese nicht zur Lösung von in der Regel fachübergreifenden Problemen der Versicherungspraxis führt. So wird die aktuelle Diskussion um die Aufteilung der jeweiligen Zuständigkeiten von Privat- und Sozialversicherung nicht nur unter Kostenargumenten, sondern auch vor dem Hintergrund des Wertewandels geführt.
II. Teilgebiete: 1. Versicherungsökonomie: Die Versicherungsökonomie beschäftigt sich mit dem Einfluß wirtschaftlicher, sozialer und ordnungspolitischer Faktoren auf das Versicherungswesen sowie mit dem Einfluß, den die Versicherungswirtschaft auf die Volkswirtschaft ausübt. Dies kann unter mikro- und makroökonomischer Perspektive geschehen. Im Rahmen der Theorie der Versicherungsmärkte werden das Angebot und die Nachfrage nach Versicherungsschutz mit mikroökonomischen Modellen und Methoden untersucht. Unter der Annahme, daß die Partner im Versicherungsmarkt vollständig über alle relevanten Daten informiert sind, diskutiert man Determinanten der Preisbildung auf Versicherungsmärkten, ermittelt Einkommenselastizitäten der Nachfrage nach Versicherungsschutz und modelliert die optimale Nachfrage nach Versicherungsschutz aus dem Blickwinkel der Versicherungsnehmer. Bei unterschiedlichem Informationsstand der Vertragspartner in bezug auf die Risikosituation, die Gegenstand des Vertrags ist, oder in bezug auf das Verhalten der jeweils anderen Partei können Fehlallokationen von Ressourcen auftreten: Allein schon die Tatsache, daß man versichert ist, löst oft Änderungen im Verhalten der Versicherungsnehmer aus, und zwar dahingehend, daß versicherte Sachen nachlässiger behandelt werden als nicht versicherte. Dieses sog. moralische Risiko führt zu Reparatur- oder Wiederbeschaffungskosten, die ohne Versicherungsschutz nicht entstanden wären. Ein weiteres, durch Versicherung induziertes Problem ist die Tatsache, daß z.B. Autoverleihfirmen oder Reparaturbetriebe erhöhte Preise für jene Leistungen verlangen, die von Versicherungsunternehmen zu bezahlen sind. - Im Rahmen der Volkswirtschaftlichen Theorie der Versicherung wird der Einfluß makroökonomischer Entwicklungen auf die Versicherungswirtschaft untersucht. So nehmen mit wachsendem Wohlstand Zahl und Höhe der Risiken zu, für die Versicherungsschutz gesucht wird. Auch die stärkere Vernetzung von Tätigkeiten und Institutionen, die wachsende gegenseitige Abhängigkeiten generiert, erhöht das Bedürfnis nach einer Absicherung von Besitz und Interessen. Ferner beeinflußt der empirisch nachweisbare Wertewandel das Verhalten in Risikosituationen und die damit verbundene Bereitschaft zum kollektiven Tragen von Risiken. Solche sozialinduzierten Entwicklungen - wie etwa die Bereitschaft, im Laufe eines Lebens mehrere Haushalte ohne strengen Familienbezug zu gründen - führen zu einem wachsenden Bedarf nach passenden Versicherungsprodukten. - Versicherungsnehmer übertragen das Risiko, daß ihre zum Zeitpunkt des Eintritts möglicher Schäden angesammelten liquidierbaren Reserven nicht ausreichen, um diese Schäden in voller Höhe zu begleichen, auf Versicherungsunternehmen, die durch kollektive Reservebildung schneller und kostengünstiger eine ausreichende Reserve ansammeln können. Doch auch für Versicherungsunternehmen stellt sich das Problem, daß sie einen a priori nicht genau prognostizierbaren Bedarf an finanziellen Mitteln decken müssen, dessen Höhe darüber hinaus noch von der Entwicklung des Geldwertes abhängt. Wenn sich dieser durch Inflation vermindert, kann das je nach Art des Versicherungsvertrags zu Problemen für Versicherungsnehmer und Versicherungsunternehmen führen: Entweder reicht der Wert der ausgezahlten Versicherungsleistungen nicht aus, um den Bedarf zu decken, oder der Wert der zugesagten Entschädigungsleistungen erhöht sich dergestalt, daß die Prämien nicht ausreichen, um künftig anfallende Schäden zu begleichen. - Mit der Übernahme einer Vielzahl unterschiedlicher privater und gewerblicher Risiken unterliegt die Versicherungswirtschaft darüber hinaus einem weit gefächerten Spektrum konjunktureller Einflüsse. Beispielsweise wirkt sich zunehmende Arbeitslosigkeit bei Rezession negativ auf das Geschäft mit privaten Haushalten aus. Konzentriert sich ein Versicherungsunternehmen auf gewerbliche Nachfrager bestimmter Wirtschaftszweige, dann hängt sein Geschäft von der Entwicklung dieser Branchen ab. Die Frage, auf welche Weise sich konjunkturelle Einflüsse auf die Versicherungswirtschaft übertragen, stellt deshalb ein wichtiges Forschungsgebiet im Rahmen der Versicherungsökonomie dar. - Über die unmittelbaren Wirkungen für Versicherungsnehmer und Versicherungsunternehmen hinaus lösen Versicherungsgeschäfte und die daran geknüpften Kapitalanlagegeschäfte auch gesamtwirtschaftliche Effekte aus: So trägt die finanzielle Entschädigung der Versicherten dazu bei, daß sich die realisierten Schäden nicht unbegrenzt fortpflanzen; das Vertrauen auf die Entschädigung erleichtert den Versicherten ferner die Aufnahme solcher Tätigkeiten (Betrieb von Kernkraftwerken, Arbeit als Rechtsanwalt), deren Gefahren ohne Versicherungsschutz existenzgefährdend sein könnten. Außerdem versorgt die Versicherungswirtschaft in ihrer Funktion als Kapitalsammelbecken die Volkswirtschaft mit finanziellen Mitteln. - Die makroökonomisch ausgerichtete Theorie der Versicherung beschäftigt sich ferner mit den Wirkungen ordnungspolitischer Maßnahmen auf die Versicherungswirtschaft. Auch im Rahmen der Marktwirtschaft machen aufsichtsrechtliche Regelungen und sonstige Rechtsvorschriften Versicherungsmärkte zu regulierten Märkten. Dies dient dem Ziel, die Verbraucher so weitgehend wie nötig zu schützen. - Die Sozialversicherung dient ebenfalls dazu, die Finanzpläne der privaten Haushalte vor ungeplanten Einnahmeausfällen und ungeplanten Ausgaben zu schützen, die durch Krankheit, Invalidität, Alter und Arbeitslosigkeit verursacht werden. Da die Sozialversicherung keine risikoadäquaten Prämien, sondern lohnbezogene Beiträge erhebt, die in der Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung zur Hälfte und in der Unfallversicherung voll vom Arbeitgeber finanziert werden, besteht in der Sozialversicherung bis auf wenige Ausnahmen für alle Arbeitnehmer Versicherungspflicht. Aus diesem Versicherungszwang resultieren Verhaltensänderungen der Versicherten, der Versicherungsträger und der Versicherungsdienstleistungen erbringenden Institutionen (Ärzte, Krankenhäuser, Rehabilitations- und Arbeitsförderungseinrichtungen), die das bisherige Verhältnis von individueller und sozialer Absicherung als Grundlage der sozialen Marktwirtschaft in Frage stellen. Die Versicherungsökonomie versucht durch Übertragung von allgemeinen ökonomischen Paradigmen Lösungsmöglichkeiten für die Strukturprobleme der Sozialversicherung zu entwickeln. - 2. Versicherungsbetriebslehre: Die Versicherungsbetriebslehre stellt einen Teilbereich der Versicherungswissenschaft dar und hat sich aus der Versicherungsökonomie heraus entwickelt. Sie wird gleichzeitig in einer wirtschaftszweigspezifischen Strukturierung der Gesamtkonzeption der Betriebswirtschaftslehre als eine spezielle Betriebswirtschaftslehre von Individual-(Privat-)Versicherungen und somit als Spezialfall einer Betriebswirtschaftslehre von Dienstleistungsunternehmen verstanden. Die Schnittstelle zu den anderen Teilbereichen der Versicherungswissenschaft bildet das Erkenntnisobjekt des Versicherns als dem zentralen Untersuchungsgegenstand auch der Versicherungsbetriebslehre. Die Abgrenzung zu den versicherungswissenschaftlichen Teildisziplinen ergibt sich aus dem versicherungsbetrieblichen Objektbereich. Dieser umfaßt das Wirtschaften in Versicherungsunternehmungen als einem Anbieter von Versicherungen sowie die damit verbundenen Vorgänge zwischen Versicherungsunternehmen wie auch die auf die unternehmerische Tätigkeit einwirkenden Rahmenbedingungen und vor dem Hintergrund vor allem der Kundenorientierung konsequenterweise auch die Nachfrager von Versicherung. Hieraus ergeben sich für die versicherungsbetriebliche Forschung und Lehre eine Vielzahl von Aufgabenstellungen. Stichwortartig lassen sich dabei insbesondere Aspekte der Prämienkalkulation und Tarifierung, Fragen der Innen- und Außenorganisation des Versicherungsunternehmens, die Bereiche des Marketing und der Unternehmenskommunikation, der Unternehmensführung und -planung, Buchhaltung und Bilanzierung, Kostenrechnung und Controlling, der Statistik, Fragen der Rückversicherung, Problemstellungen der Kapitalanlage und Vermögensverwaltung sowie vor allem aufgrund der Betrachtung von Versicherung als einer risikopolitischen Maßnahme Aspekte des Risk Management respektive der Risikopolitik nennen. - Diese vielfältigen Problembereiche lassen sich einordnen in vier Teilgebiete, die dabei gleichzeitig den systematisierten Lehrinhalten der meisten versicherungsbetrieblichen Lehrprogramme entsprechen. Die versicherungsbetriebliche Risikotheorie dient als theoretische Grundlage des versicherungstechnischen (Kern-)Geschäfts der Versicherungsunternehmen und dabei vor allem der Prämien- und Reservekalkulation. Sie liefert quantitative Modelle in bezug auf die transferierten Schadenverteilungen der versicherungstechnischen Einheiten sowie Methoden, um die risikopolitischen Maßnahmen des Versicherungsunternehmens an der Streuungsreduktion der Gesamtschadenverteilung und im Hinblick auf die Veränderung der Zielfunktion zu bewerten. Die Theorie der Versicherungsunternehmung ist eine theoretische Versicherungsbetriebslehre im engeren Sinne, bei der nichtversicherungstechnische Partialmodelle und Methoden sowie versicherungsbetriebliche Globalmodelle (Versicherungsbetriebslehre) und damit beispielsweise Fragestellungen der Unternehmensorganisation, der Kapitalanlage oder des Asset-Liability-Managements im Vordergrund der Betrachtung stehen. Die wesentliche Aufgabe ist hierbei, die Eignung von in der Regel deterministischen Aussagen bzw. Modellen der Allgemeinen Betriebwirtschaftslehre für versicherungsspezifische Fragestellungen, deren zentrales Problem die aus zufälligen Schadenereignissen der Zukunft resultierenden und im vorab ungewissen Kapitalbedarfe sowie deren Konsolidierungsmechanismen darstellen, zu überprüfen. Die der Dokumentation des Unternehmensgeschehens dienende Rechnungslegung von Versicherungsunternehmen umfaßt Aspekte der externen und der internen Rechnungslegung. Die externe Rechnungslegung ist in der Versicherungsbetriebslehre insofern von besonderer Bedeutung, weil sich viele Besonderheiten des Versicherungsgeschäfts, z.B. diverse versicherungstechnische Rückstellungen, der Ausweis der aktiven und passiven Rückversicherung oder die Trennung von technischem und "allgemeinen", d.h. nichtversicherungstechnischen Geschäft, in der Rechnungslegung niederschlagen. Auch dienen die Daten der externen Rechnungslegung als Testdaten zur Überprüfung theoretischer Hypothesen. Im Rahmen aller versicherungsbetrieblichen Entscheidungen bzw. Handlungen sind darüber hinaus unternehmensexterne Rahmenbedingungen zu berücksichtigen, die sich differenzieren lassen in einzel-/gesamtwirtschaftliche, politisch-rechtliche, physisch-technologische sowie sozial-kulturelle Rahmenbedingungen (Versicherungsbetriebslehre). - 3. Versicherungsrecht: Das Versicherungsrecht besitzt schon immer eine zentrale Stellung in der Versicherungswissenschaft, seit 1901 durch das Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) eine staatliche Aufsicht (Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen (BAV) mit Sitz in Berlin) über die privaten Versicherungsunternehmen errichtet wurde. Das BAV erteilt die Erlaubnis für den Versicherungsbetrieb und kontrolliert die dann am Markt tätigen Versicherungsunternehmen durch die sogenannte laufende Aufsicht. Die Hauptregulierungsbereiche sind die Finanzausstattung (Solvabilität) der Versicherungsunternehmen, die Risikobeschränkung im Kapitalanlagebereich sowie die durch ein eigenes Versicherungsvertragsgesetz (VVG) geregelten privatrechtlichen Beziehungen zwischen Versicherungsnehmer und Versicherungsunternehmen und damit die Rechte und Pflichten der Vertragsparteien. Wesentlicher Inhalt des VVG sind die Abgrenzung des Produkts Versicherungsschutz durch die in den Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) festgelegten und versicherungszweigabhängigen Definitionen der versicherten Gefahren, des versicherten Bereichs und der versicherten Schäden sowie die versicherungsspezifische Formulierung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB). Die AVB stellen insofern eine Synthese von AGB und Produktbeschreibung dar. Im Rahmen des europäischen Einigungsprozesses sind durch die Umsetzung der Richtlinien der Dritten Generation in deutsches Recht die AVB der Vorabkontrolle der Versicherungsaufsicht entzogen worden. Stattdessen kann das BAV weitgehend nur noch durch eine sogenannte Mißbrauchsaufsicht in die Produktgestaltung eingreifen. - Auch das Recht der Sozialversicherung blickt in Deutschland auf eine lange Tradition zurück. So wurde im Jahre 1911 das System der Sozialversicherung durch die sechs Bücher der Reichsversicherungsordnung (1. Buch: Vorschriften für alle Zweige der Reichsversicherung, 2. Buch: Krankenversicherung, 3. Buch: Unfallversicherung, 4. Buch: Rentenversicherung der Arbeiter, 5. Buch: Rechtliche Beziehungen der Versicherungsträger zueinander und zu anderen Verpflichteten, 6. Buch: Verfahren) strukturiert. Die 1957 begonnene, heute aber noch nicht abgeschlossene Neuordnung der Sozialversicherung soll das geltende Sozialrecht in ein Sozialgesetzbuch (SGB) mit 10 Büchern zusammenfassen. Bislang existieren die Sozialgesetzbücher SGB I - Allgemeiner Teil für alle Sozialleistungsträger, SGB IV - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung, SGB V - Gesetzliche Krankenversicherung, SGB VI - Gesetzliche Rentenversicherung und SGB X - Verwaltungsverfahren, Schutz der Sozialdaten. - Darüber hinaus werden in diesem versicherungswissenschaftlichen Teilbereich auch internationale Rechtsaspekte untersucht. Im Zentrum des Forschungsinteresses stehen dabei Fragen des internationalen Privat- und Sozialversicherungrechts. - 4. Versicherungsmathematik: Versicherungsmathematik und -statistik sind grundlegend für die Produktion von Versicherungsschutz, da sie Modelle und Methoden zur Verfügung stellen, mit deren Hilfe man quantifizierbare Sachverhalte der Individual- und Sozialversicherung beschreiben und erklären kann. Auf dieser Basis lassen sich versicherbare Risiken erkennen und im Versicherungsunternehmen zu relativ homogenen Kollektiven zusammenführen. Unter Berücksichtigung von Ausgleichseffekten im Kollektiv und in der Zeit können dann die Preise für die Übernahme von Risiken berechnet und in einem Tarif zusammengestellt werden. - Kernbereiche der Versicherungsmathematik sind die Kombinatorik, die Wahrscheinlichkeitstheorie, die Finanzmathematik und die Statistik. So konnte die Lebensversicherung erst dann erfolgreich betrieben werden, nachdem Kenntnisse über die Erstellung von Bevölkerungsstatistiken bzw. Sterbetafeln entwickelt waren und man die Zinseszinsrechnung anzuwenden wußte. Sofern Lebensversicherungsunternehmen über große Bestände und langfristige Verträge verfügen, ist der auf den Gesetzen der großen Zahlen basierende Risikoausgleich im Kollektiv und in der Zeit mit relativ guter Genauigkeit zu bewerkstelligen. - Im Vergleich hierzu unterliegen Schadenversicherungsunternehmen einem größeren versicherungstechnischen Risiko, denn einerseits besteht Unsicherheit darüber, ob überhaupt Schäden eintreten und wie hoch diese sein werden, andererseits hängt der Eintritt und die Höhe potentieller Schäden von vielfältigen Einflüssen ab, deren Wirkung auf die versicherten Personen, Interessen und Sachen nur geschätzt werden kann. Modelle der Schadenversicherung sind deshalb komplexer als im Lebensversicherungsbereich und im Vergleich zu deren (pseudo-)deterministischen Modellen stochastisch. Sie dienen der Erforschung der veränderlichen Schadenursachen und ihrer Wirkungen und helfen bei der Entwicklung risikogerechter Tarifsysteme. - Zur Abbildung des versicherungstechnischen Produktionsprozesses greift man auf Modelle der Risiko- und Ruintheorie zurück. Diese berücksichtigen die Tatsache, daß Versicherungsunternehmen trotz des Risikoausgleichs im Kollektiv und in der Zeit mit einem a priori nicht sicher prognostizierbaren Geldbedarf für die Finanzierung von Schadenfällen rechnen müssen. So kann der Fall eintreten, daß die Auszahlungen für Schäden in einer Periode größer sind als die Prämieneinzahlungen. Hierauf muß bei der Anlage der vereinnahmten Mittel geachtet werden. Deshalb sind auch für den Bereich der Kapitalanlage mathematische Modelle und Planungshilfen entwickelt worden, welche die Abstimmung der Kapitalanlage auf den Schadenfinanzierungsbedarf erleichtern. - Versicherungsmathematische Erkenntnisse bilden die Grundlage vielfältiger Entscheidungen im Versicherungsunternehmen: So hilft die Erforschung des veränderlichen Schadenursachensystems bei der Entwicklung von neuen Versicherungsprodukten; im Rahmen der Prämienkalkulation berücksichtigt man den Risikoausgleichseffekt, der durch die Zusammenführung ähnlicher Risiken in Kollektive entsteht, und bei der Berechnung der Höhe der finanziellen Reserven, die zur Sicherung der Verpflichtungen aus dem Versicherungsgeschäft notwendig sind, bedient man sich der erwähnten Risikoreserve- und Kapitalanlagemodelle. Sie bilden die Grundlage des Aktiv-Passiv-Steuerns (Asset-Liability-Management). - 5. Versicherung und Technik: Der technische Fortschritt schafft Risiken neuartiger Qualität und Quantität, die oft nur eingegangen werden, wenn Versicherungsschutz zur Verfügung steht. Insofern kann das Versicherungswesen als Wegbereiter des technischen Fortschritts betrachtet werden. Ganz deutlich wird dies, wenn man den Ursprung der Maschinenversicherung betrachtet: Nachdem im vergangenen Jahrhundert immer wieder Probleme mit explodierenden Dampfkesseln auftraten, wurde die ingenieursmäßige Überprüfung der Betriebssicherheit der Kessel schließlich mit dem Versprechen verbunden, für die trotz dieser Revision auftretenden, durch Explosion verursachten Personen- und Sachschäden zu haften. - Versicherungsunternehmen, die Sparten mit technischem Bezug wie bspw. die Maschinen-, die Montage- oder die Bauwesenversicherung betreiben, benötigen entsprechend ausgebildete Experten, welche die in den versicherten Bereichen möglicherweise auftretenden Schäden und deren Wirkungen sachgerecht beurteilen können. Besonders schwierig ist die Schätzung des Schadenpotentials bei hoch komplexen informationstechnischen, chemischen, Kernenergie-, Raumfahrt- und meerestechnischen Systemen: Bei diesen technischen Anlagen sorgen umfangreiche Schadenverhütungsmaßnahmen dafür, daß die Wahrscheinlichkeit des Eintritts von Schäden gering bleibt. Sollte sich aber dennoch ein Schadenereignis realisieren, kann der Schaden katastrophale Ausmaße annehmen. - Technische Erkenntnisse werden also benötigt, um das Ausmaß der Risiken abzuschätzen, die Versicherungsunternehmen von Bauherren, Industrieunternehmen oder den Betreibern technischer Anlagen übernehmen. Denn darauf basiert der Preis, der für eine mögliche Schadenkostenfinanzierung veranschlagt wird. Technische Erkenntnisse dienen ferner dazu, den Leistungsanspruch der Geschädigten zu überprüfen und die Höhe realisierter Schäden zu bewerten. So ist es z.B. durchaus möglich festzustellen, ob ein Türschloß aufgebrochen oder aufgeschlossen wurde, d.h. ob ein gemeldeter Einbruchdiebstahl fingiert ist oder nicht. - Insbesondere gewerbliche Kunden von Versicherungsunternehmen erwarten in zunehmendem Maße eine über die Kernleistung des Versicherungsschutzes hinausgehende Beratung in Sicherheitsfragen. Diese wird von technisch versierten Personen (z.B. Wirtschaftsingenieuren oder Brandschutzexperten) erbracht, die Maßnahmen zur Risikomeidung bzw. -minderung empfehlen und hierbei den Versicherungsschutz in ein umfassendes Risikomanagement integrieren. Die Entwicklung des benötigten technischen Know-hows und die Weiterbildung von Ingenieuren und Technikern in den versicherungsspezifischen Belangen der Risikoanalyse und -bewertung, der Schadenschätzung, der Überprüfung der Leistungsverpflichtung usw. erfolgt in darauf spezialisierten Instituten der Versicherungswirtschaft, z.B. im Allianz-Zentrum für Technik in München, bei Rückversicherern, die einen großen Teil der technischen Risiken tragen, sowie an Technischen Hochschulen und beim Verband der Schadenversicherer in Köln. - 6. Versicherungsmedizin: Die Versicherungsmedizin hat sich aus der Risikoprüfung bei Vertragsabschluß und aus der Kontrolle der Leistungspflicht im Versicherungsfall entwickelt. Durch die Auswertung und Anwendung spezieller Erkenntnisse der medizinischen Diagnostik, Therapie und Prognostik beeinflußt die Versicherungsmedizin die Versicherbarkeit, die Risikoauslese, die Kalkulation und die Versicherungsleistungen in der Lebens-, Kranken- und Unfallversicherung sowie in der Tierversicherung und auch in Teilen der Haftpflichtversicherung. Während die Grundversorgung der Bevölkerung mit Versicherungsschutz unabhängig vom individuellen Gesundheitszustand und unabhängig von den berufsbedingten Gefahren über eine weitgehende Zwangsmitgliedschaft in der Sozialversicherung erreicht wird, kann jedermann darüber hinaus grundsätzlich noch freiwillig private Lebens-, Kranken- und Unfallversicherungen abschließen. - Hieraus resultiert die Möglichkeit, daß viele Personen, die sich krank fühlen oder ihrer eigenen Langlebigkeit mißtrauen, nach einem erweiterten Versicherungsschutz streben. Würden Versicherungsverträge mit Personen verminderter Lebenserwartung zu durchschnittlichen Prämien zustande kommen, würden die Prämien mittel- bis langfristig nicht ausreichen, um die Schadenfälle zu begleichen. Diesen Fall der Antiselektion bezeichnet man auch als adverse selection, die gleichfalls Gegenstand mikroökonomischer Untersuchungen der Wirkung von Versicherungsschutz ist. Deshalb nehmen Versicherungsunternehmen bei Abschluß von Versicherungsverträgen Risikoprüfungen vor und versichern eventuell schlechte Risiken nicht. Die dazu notwendigen Diagnosen nehmen Ärzte vor, die dem jeweiligen Versicherungsunternehmen Auskunft über den Gesundheitszustand der Antragsteller erteilen dürfen, weil sie für diesen Fall ausdrücklich von der ärztlichen Schweigepflicht entbunden werden. Will nun ein potentieller Versicherungsnehmer, bei dem risikoerhöhende Faktoren vorliegen, einen Versicherungsvertrag abschließen, wird seine erhöhte Sterblichkeit, Krankheits- oder Unfallgefährdung über Zuschläge zu den Basistarifen berücksichtigt, die aus Daten von Personen ähnlichen Gesundheitszustandes bzw. Gefährdungsgrades gewonnen werden. Die Versicherungsmedizin dient damit der risikogerechten Prämienkalkulation und der Solvabilität der privaten Versicherungsunternehmen.
III. Institutionen: 1. National: Der 1899 in Berlin gegründete Deutsche Verein für Versicherungswissenschaft ist auch heute noch die zentrale Einrichtung, um bei interdisziplinären Themen die Aktivitäten der einzelnen Forscher aus den verschiedenen Teildisziplinen zu gemeinsamen Tagungen zu bündeln und durch die Herausgabe der Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft (ZVersWiss) ein Forum für die versicherungswissenschaftliche Forschung zu bieten. Interdisziplinäre Institute der Versicherungswissenschaft existieren an den Universitäten Köln und Mannheim. An den meisten anderen deutschen Universitäten und Hochschulen gibt es Professuren und Forschungseinrichtungen für versicherungswissenschaftliche Teildisziplinen. Die Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung in Köln bemüht sich vor allem, die Veränderungen der Rahmenbedingungen der Sozialversicherung und die Schnittstellen zwischen Individual- und Sozialversicherung sowie zwischen den Zweigen der Sozialversicherung auf Tagungen zu diskutieren und durch Forschungsaufträge zu klären. - 2. International: Auf internationaler Ebene werden versicherungswissenschaftliche Themen bisher nur monodisziplinär untersucht. Aktuarielle Probleme, die allerdings oft über die Versicherungsmathematik hinausreichen, werden auf den alle vier Jahre stattfindenden internationalen Aktuarkongressen diskutiert, die von der Association Actuarielle Internationale in Brüssel organisiert werden. International bedeutsame Themen des Versicherungsrechts werden auf den alle vier Jahre stattfindenden Weltkongressen der 1960 gegründeten internationalen Vereinigung für Versicherungsrecht A.I.D.A. (Association Internationale de Droit des Assurances) behandelt. Die europäischen Versicherungsökonomen treffen sich seit mehr als 20 Jahren einmal jährlich auf den Tagungen der Association Internationale pour l'Etude de l'Economie de l'Assurance, nach dem Gründungsort 'Genfer Vereinigung' genannt. Die Genfer Vereinigung gibt die Geneva Papers on Risk and Insurance, eine internationale versicherungsökonomische Zeitschrift, heraus. Das amerikanische Pendant zur Genfer Vereinigung ist die ARIA (The American Risk and Insurance Association, Inc.), die das Journal of Risk and Insurance herausgibt.
Literatur: Albrecht, P., Ansätze eines finanzwirtschaftlichen Portefeuille-Managements und ihre Bedeutung für Kapitalanlage- und Risikopolitik von Versicherungsunternehmen, Karlsruhe 1995; Helten, E., Versicherungsbetriebslehre, in: Wittmann, W. u. a. (Hrsg.), Handwörterbuch der Betriebswirtschaft, Teilband 3: R-Z, 5. Aufl., Stuttgart 1993, Sp. 4598-4611; Helten, E., Versicherungsmathematik, in: Farny, D. u. a. (Hrsg.), Handwörterbuch der Versicherung, Karlsruhe 1988, S. 1077-1081; Helten, E., Versicherungsökonomie zwischen theoretischem Anspruch und empirischer Relevanz, in: Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft 1990, S. 359-374; Henn, R./ Schickinger, W.F. (Hrsg.), Staat Wirtschaft Assekuranz und Wissenschaft, Festschrift für Robert Schwebler, Karlsruhe 1986; Hoffmann, K., Risk Management - Neue Wege der betrieblichen Risikopolitik, Karlsruhe 1985; Raestrup, O., Versicherungsmedizin, in: Farny, D. u. a. (Hrsg.), Handwörterbuch der Versicherung, Karlsruhe 1988, S. 1083-1091; Schwebler, R., Plädoyer für eine interdisziplinär orientierte Versicherungswissenschaft, Heft 53 der Mannheimer Vorträge zur Versicherungswissenschaft, Karlsruhe 1990.

 

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